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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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gezogen, verharrte sie flach atmend und lauschte. Mit Blicken so intensiv, dass ihr die Augen schmerzten, versuchte sie die Dunkelheit zu durchdringen.
    Was waren das für Geräusche? Das Haus. Ja, es war nur das Haus. Das alte Gebälk, das noch ältere Fundament … Tom hatte ihr gesagt, dass ein altes Haus immer Geräusche macht. Zu hören waren sie aber nur in den stillen Stunden der Nacht. Das machte sie unheimlich, aber sie waren es nicht. Es gab keine unheimlichen Häuser, nur Geräusche, nur altes Holz, das sich dehnt und nachgibt. Kristin spürte das Bedürfnis aufzustehen, in das Zimmer nebenan zu gehen und nach Lisa zu sehen. Sie wollte unbedingt, aber noch gehorchten ihre Beine ihr nicht. Aus Angst vor der Dunkelheit blieb sie still liegen; aus Angst vor dem Grauen, das lebendig geworden ihren Gedanken entstiegen war und nun im Zimmer hockte.
    Irgendwann war der Mut stark genug. Sie streckte einen Arm aus und knipste die Nachttischlampe an. Das Licht war Segen und Rettung zugleich. Mit der Dunkelheit vertrieb es auch das Grauen. Wo immer es auch gesteckt haben mochte, es verschwand so schlagartig, wie es gekommen war. Das Zimmer war wieder nur ein Zimmer, nicht mehr. Trotzdem blieb sie noch einen Moment liegen und wartete. Worauf, wusste sie nicht, sie wartete einfach. Schließlich schlug sie die Decke zurück und stand auf. Barfuß und im Pyjama verließ sie das Zimmer, schlich eine Tür weiter und trat im sanften Licht der Steckdosenleuchte ans Kinderbett. Lisa lag auf der Seite, den Mund geöffnet, das Haar verschwitzt und zerzaust. Sie schwitzte immer im Schlaf. Jeden Morgen dauerte es ewig, ihr langes Haar in Ordnung zu bringen.
    Als Kristin die Decke über ihrer Tochter zurechtziehen wollte, hörte sie plötzlich das Geräusch. Ein reales Geräusch, keine Einbildung, kein Überbleibsel schmerzhafter Gedanken im Halbschlaf. Sie erstarrte.
    Es war nicht das Haus, da war sie sicher. Nein, derart laute Geräusche machte das Haus nicht. Aus dem Erdgeschoss war es gekommen. Die Gänsehaut, die sich über ihren ganzen Körper ausbreitete, war beinahe schmerzhaft. Ihre Kopfhaut zog sich zusammen. Sie schlich zur Tür hinaus auf den dunklen Flur. An der obersten Treppenstufe blieb sie stehen und lauschte. Unten lag die unbeleuchtete Diele, tiefschwarz, aber dank fehlender Möbel ohne Verstecke. Kristin drückte auf den Schalter an der Wand und tauchte sie in warmes Licht.
    Da war nichts.
    Nachdem sie eine Weile gelauscht hatte, das Geräusch sich aber nicht wiederholte, stieg sie die Treppe hinunter. Ihre Fußgelenke knackten leise, das alte Holz knarrte an manchen Stellen. Als sie ihren nackten Fuß auf die kalten Fliesen setzte, war sich Kristin plötzlich seiner Anwesenheit bewusst. Sie war sich so sicher, dass er doch noch nach Hause gekommen war, dass sie seinen Namen rief.
    «Tom?»
    Das eine Wort hallte in der unmöblierten Diele. Noch ehe es ganz verschwunden war, hörte Kristin die Antwort.
    «… bin wieder hier …»
    Das Arbeitszimmer, es kam aus dem Arbeitszimmer! Ihre Füße flogen über die Fliesen auf die angelehnte Tür zu. Oh Gott, sie hatte es doch gewusst, sie hatte doch recht behalten! Die Polizisten hatten sich geirrt. Irgendjemanden hatte es in der Bank erwischt, irgendjemanden hatte man in der Schalterhalle das Gesicht weggeschossen, aber nicht Tom. Nicht ihrem Tom. Er war wieder da. Und nichts daran war ungewöhnlich, oder? So oft war es in den letzten Wochen spät geworden im Büro, so oft war er mehr nachts als abends heimgekehrt. Dann brachte er stets erst seine Sachen ins Arbeitszimmer, immer erst ins Arbeitszimmer. Er wollte seine beiden Mädels nicht wecken. Er nahm immer Rücksicht auf seine beiden Mädels.
    Kristin drückte die Tür auf, gleichzeitig fand sie den Lichtschalter und machte Licht.
    «Tom, großer Gott, Tom, ich …»
    Da war so vieles, was sie noch hatte sagen wollen. Sie wollte ihm von ihrem Albtraum erzählen. Davon, dass in ihrem Traum zwei Polizisten gekommen waren und von seinem Tod berichtet hatten. Von dem Psychologen, der zwei Stunden später eingetroffen war; davon, dass man sie nicht in den Kindergarten bringen wollte und Lisa erst Stunden später von einer Erzieherin nach Haus gebracht worden war. All diese schrecklichen Dinge, die sich nur in Albträumen ereignen konnten, wollte sie ihm erzählen.
    Doch der Schreibtisch war verwaist.
    Tom saß nicht daran. Trotzdem bewegte sich der Bürostuhl. Eine halbe Drehung, so als sei gerade jemand davon
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