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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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echt war. Er sagte mir später, dass ihm in diesen wenigen Sekunden am Telefon die ganze scheußliche Geschichte vom Scherenschleifer wieder eingefallen ist. Wisst ihr, dass alles lag ja schon lange zurück, und bis auf die üblichen Schauermärchen, die man den Kinder erzählte, sprach niemand darüber. Johann hatte es schlicht vergessen. Bis zu diesem Anruf.
    Da ich den Wagen mitgenommen hatte, rief er Gerd und Hanna an. Damals hatten sie noch über Mittag geschlossen. Sie setzten sich sofort in den Wagen, holten Johann ab und hielten keine zehn Minuten später auf dem Hof des Sasslingerhauses. Die Haustür stand offen, schon von draußen konnten sie Helga schreien hören. Auf der Diele bot sich ihnen ein entsetzliches Bild. Helga lag am Boden, blutig im Gesicht, ihre Kleidung zerrissen. Otto stand hinter ihr, zerrte sie an den Haaren auf die Kellertür zu, und als er die drei bemerkte, drückte er ihr ein Messer an die Kehle.
    Johann sagte, es war nicht der Otto Nussmann, den er bis dahin gekannt hatte. Otto war ein stiller, liebenswürdiger, kleiner Mann mit Halbglatze, der tagsüber Porzellan in Regale sortierte und alte Damen beim Einkauf beriet. Da auf der Diele stand zwar sein Körper, doch darin …? Das war nicht Otto. Er brüllte sie an, sie sollten verschwinden, sie befänden sich in seinem Revier.»
    Hätte Maria nicht in ihre Teetasse geschaut, hätte sie Kristins Reaktion auf diese Worte bemerkt. Sie zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Robert bemerkte es. Er nahm ihre Hand.
    «Gerd wollte Otto beruhigen, doch der war nicht ansprechbar. Er wiederholte immer wieder, dass sie aus seinem Revier verschwinden sollten, und zerrte seine Frau weiter auf die Kellertür zu. Was Gerd dann getan hat, war vielleicht dumm, aber irgendwas mussten sie ja tun. Gerd war sportlich, immer schon, spielte seit seiner frühesten Jugend Fußball. Er hat sich wohl Chancen ausgerechnet. Er sprang auf Otto zu, doch bevor er ihn erreichte, schnitt Otto seiner Frau die Kehle auf. Johann meinte, es sah aus, als habe er jahrelange Übung im Umgang mit einem Messer. Gerd riss ihn von den Beinen und stürzte mit ihm zusammen die Kellertreppe hinunter.»
    Maria hielt inne, blinzelte zur Decke hinauf und atmete schwer ein. «Sie kamen zu spät, sie konnten es nicht mehr verhindern. Es wäre besser gewesen, sie wären überhaupt nicht hingefahren.»
    Nach einer kurzen Pause erzählte sie weiter.
    «Helga Nussmann verblutete auf der Diele, Otto brach sich das Genick. Gerd erlitt einen Schädelbasisbruch und verletzte sich das Knie derart, dass er dreimal operiert werden musste und nie wieder Fußball spielen konnte. Er war danach nicht mehr der Alte. Er wurde unzufrieden, missmutig und verfiel dem Alkohol. Drei Jahre hing er an der Flasche, bevor er starb. Es war eine schlimme Zeit für Hanna.
    Danach stand das Haus zwanzig Jahre leer. Wir alle dachten nicht im Traum daran, dass es noch einmal verkauft werden könnte. Johann hatte immer vor, es anzuzünden, doch je länger es leer stand, umso weniger Sorgen machte er sich. Und dann seid ihr eingezogen.»
    Kristin sah Tränen an Marias Wangen hinablaufen. Sie setzte sich zu ihr auf die Bank und umarmte sie. «Er hat es getan. Bevor sein Herz ihn aufgab, hat er es angezündet. Dank Johann wird es niemals wieder geschehen.»

    Sie schwiegen, als sie die Baumschule verließen. Lisa beschäftigte sich auf der Rückbank mit einem Spiel. Kristin war nicht nach Sprechen. Sie schob die Kassette in den Schlund des Radios, die sie extra für die lange Fahrt nach Österreich bespielt hatte. Auch ihr Lied war darauf, gleich zu Beginn. Trotz allem, was geschehen war, würde es immer «ihr» Lied bleiben, und jetzt, mit genügend Abstand betrachtet, war sie sich sicher, dass ebendieses Lied ihre Rettung gewesen war, damals im Schneesturm auf der Landstraße.
    Der Sänger sang «Wieder hier», während sie am Grundstück des ehemaligen Sasslingerhauses vorbeirollten. Ein letzter Blick nach links. Sie hätte die Ruine so gelassen, wie sie war, doch die Gemeindeverwaltung hatte darauf bestanden, dass die Trümmer entfernt werden müssten. Heuer war das Grundstück zwar verwildert, aber aufgeräumt. Ein Haus gab es nicht mehr. Nur der Keller hatte den Brand überstanden. Ein Radlader hatte Erde darübergeschoben. Das Grundstück gehörte ihr noch, und solange das so war, würde niemand auf den alten Grundmauern ein Haus errichten.
    Niemals.

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