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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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Hintern zu Boden. Blieb noch einer übrig.
    Robert drehte sich um – und erstarrte. Der Junge lag zwischen zwei verchromten Stühlen auf dem Rücken und hielt seine Waffe im Anschlag. Das dunkle Loch der Mündung war auf Robert gerichtet.
    «Lass fallen», sagte er.
    Würde er schießen?
    Seine Hände zitterten, der Ausdruck in seinen Augen war nicht der eines abgebrühten Killers. Trotzdem, er wähnte sich in Lebensgefahr, das machte ihn unberechenbar. Robert wartete eine Sekunde zu lange. Der Jungmafiosi krümmte den Zeigefinger und zog den Abzug durch.
    Roberts Herzschlag setzte aus, in seinem Inneren schien irgendwas mit großer Kraft nach unten zu sacken. Er erwartete den Einschlag des Projektils in seinen Körper, machte sich für den Schmerz bereit – doch es geschah nichts. Er konnte es kaum glauben. Der Typ hatte schlicht und ergreifend vergessen, seine Waffe zu entsichern.
    Robert dachte nicht weiter über das Glück nach, das ihm zuteilgeworden war – er trat dem überraschten Jüngelchen die Waffe aus der Hand. Als die Spitze seines festen Schuhs dessen Handgelenk traf, hörte er die Knochen splittern. Die Waffe flog gegen ein Bücherregal und plumpste zu Boden. Wie von Sinnen schrie der Junge im Sportanzug auf, presste seine Hand an den Bauch, zog die Knie an und krümmte sich zusammen.
    «Mann … verdammte Scheiße … du, du hast mir die Hand gebrochen. Hey, was soll das? Nimm das Ding weg!»
    Dem Pickeligen stand die Panik ins Gesicht geschrieben. Robert konnte ihn verstehen. In das Auge eines Pistolenlaufes zu blicken konnte einen wirklich fertigmachen. Er hatte sich ja selbst eben beinahe in die Hosen geschissen. Aber Mitleid war hier fehl am Platze. Robert zielte auf den Oberschenkel und zog den Abzug durch. Der Betäubungspfeil bohrte sich in den Muskel. Der Junge griff mit der unverletzten Hand danach, im selben Moment fiel sein Kopf schlaff auf die Seite.
    Sechs Betäubungspfeile passten ins Magazin der klobigen Waffe. Sie funktionierten wie eine Spritze. Beim Aufprall öffnete sich ein winziges Ventil, und die geringe Menge Azepromazin strömte in den Blutkreislauf des Körpers. Robert füllte die Kapseln der Pfeile selbst, daher wusste er, was er tat. Eine Winzigkeit mehr der weißlichen Flüssigkeit, und die Getroffenen würden den Rest ihres Lebens als sabbernde Krüppel im Rollstuhl verbringen. Ihr Gehirn, wertvoll oder nicht, würde paralysiert werden.
    Robert stieg über die Betäubten hinweg zum Schreibtisch. Der Koffer war zwar geschlossen, die Kombinationsschlösser aber noch nicht eingeschnappt. Er hob den Deckel an. Gebündelte Geldscheine, denen man ansah, dass sie schon in vielen Hosentaschen gesteckt hatten, lagen ordentlich aufgereiht darin. Zehner, Zwanziger, Fünfziger, selten ein Hunderter. Robert nahm ein Bündel heraus und starrte es an. Einige dieser zerknitterten Scheine könnten seinem Vater gehört haben. Jetzt nahm er sich das Taschengeld, das er in seiner Kindheit nie bekommen hatte.
    Robert legte das Bündel zurück, schlug den Deckel zu, stellte die Zahlenreihen auf null und verriegelte den Koffer. Während er das Haus verließ, nahm er die Skimütze ab, entfernte die Pfeile aus den betäubten Bewohnern und steckte sie in die Taschen seiner Jacke. Den Koffer mit den Drogen ließ er bei Cox liegen. Er hatte keine Verwendung dafür.
    Wenig mehr als fünf Minuten war er drinnen gewesen. Fünf Minuten Arbeit, ungefähr zweihunderttausend Euro Lohn.
    Seine Beine zitterten, als er die Auffahrt hinunterging.

3
    Eine Reise durchs Land der Trauer, lange Aufenthalte in Städten voller Tränen, voller Leid, Schmerzen und bitteren Vorwürfen. Das Gepäck bestehend aus Erinnerungen und Wünschen; die Nahrung nur Zweifel am Sinn der Zukunft. Jeder Schritt kostet mehr Kraft als der vorherige, jeder Blick verzerrt die Wirklichkeit. Und das Grauen schleicht hintendrein. Man kann es nicht hören und nicht sehen, aber seine Anwesenheit ist intensiver spürbar als die eigenen Schmerzen. Warum ist es da? Warum mischt es sich ein und macht alles noch schlimmer?
    Kristin wusste es nicht. Als sie ihre Augen aufschlug, verschwanden die Gedanken, mit denen sie sich Stunden schlaflos auf dem Laken gewälzt hatte. Nur eines blieb: das Grauen. Es war mit ihr in diesem dunklen Schlafzimmer, das ihr fortan allein gehörte, hockte in irgendeiner Ecke, vielleicht auch in allen. Es füllte die Finsternis aus, machte sie erdrückend. Kristin wagte nicht, sich zu bewegen. Die Decke bis zum Kinn
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