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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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der Sonne wirkten die beiden Fremden ungleich dunkler und größer, als sie es wirklich waren.
    Schwarze Männer … sie sehen aus wie schwarze Männer.
    «Frau Merbold?», sprach der Mann sie an. Sein rundliches Gesicht war gerötet. Schweißperlen glänzten auf seiner hohen Stirn. Kristin sah zu ihm hinab, dann zu der Frau hoch, die genauso groß war wie sie. «Ja.»
    «Was kann ich für Sie tun?», hatte sie noch fragen wollen, doch es blieb ihr im Halse stecken. Sie glaubte einen unterschwelligen Geruch wahrnehmen zu können: den Geruch der Angst! Die beiden Fremden hatten ihr etwas zu sagen, und sie fürchteten sich davor.
    «Können wir für einen Moment hereinkommen, Frau Merbold?», fragte die Frau. Sie sprach leise, vorsichtig.
    «Nun … ich weiß nicht …» Noch immer hielt Kristin die Tür nur schulterbreit geöffnet. Dabei kam ihr das alte, offenporige Holz wie eine letzte Bastion gegen etwas vor, das sie lieber nicht im Haus haben wollte. Wie oft hatte Vater ihr verboten, Fremden die Tür zu öffnen?
    «Oh, entschuldigen Sie bitte.» Der Mann griff in sein dunkles Jackett und holte ein braunes Lederetui hervor. Er klappte es auseinander und zeigte ihr einen Ausweis mit Lichtbild. Ebenso gut hätte er Kristin auch den schwarzen Peter aus einem Kartenspiel zeigen können, so wenig nahm sie den Ausweis wahr, obwohl sie ihn anstarrte.
    «Mein Name ist Felix Leitmann … das ist meine Kollegin Natascha Hensen. Wir sind von der Kripo Hamburg.»
    Als würde das alles erklären, steckte Leitmann seinen Ausweis wieder ein. Und in der Tat reichte es Kristin, seinen Beruf zu kennen, um ihre dunkle Vorahnung bestätigt zu wissen. Etwas war geschehen. Etwas Schlimmes.
    Tom war wegen der Krediterweiterung für die neuen Fenster am frühen Morgen nach Hamburg zur Bank gefahren. Vorher hatte er Lisa beim Kindergarten abgesetzt. Wie stolz sie zu ihm in den Cherokee gestiegen war …
    Kristin blinzelte, um die Erinnerung loszuwerden. Eigentlich hätten die beiden jetzt auf den Hof rollen müssen. Jetzt, genau in diesem Moment. Der Kindergarten ging bis drei viertel zwölf. Immer! Doch so sehr Kristin sich auch Jeepis sattes Brummen herbeisehnte – es blieb still.
    «Es geht um Ihren Mann.» Die Frau trat einen Schritt vor, sodass Kristin ihr Gesicht sehen konnte. Für einen Moment glaubte sie ihrem Spiegelbild zu begegnen: langes, dunkelblondes Haar, zu einem Pferdeschwanz gebändigt, schmales Gesicht, grünblaue Augen. Einzig die Nase der Frau war länger und knochiger. Nur ganz kurz begegneten sich ihre Augen.
    «Dürfen wir hereinkommen, Frau Merbold?»
    Kristin nickte und öffnete die Tür vollends. Dann ging sie voraus und führte die beiden durch die Diele ins Wohnzimmer. Durch die große Terrassentür fiel warmes, dunstiges Licht herein. Kristin meinte durch einen Traum zu wandeln. Gewiss, ein böser Traum, aber eben nur einer jener Zustände, die durch kräftiges Kneifen beendet werden konnten. Wortlos sah sie die beiden Polizisten an.
    «Wollen wir uns setzen, Frau Merbold?», fragte abermals die Frau.
    Kristin versuchte sich an ihren Namen zu erinnern, aber er war weg. Das Innere ihres Kopfes glich einem verwaisten Fußballfeld. Eine riesige, gähnende Leere, die darauf wartete, von irgendjemandem oder irgendetwas gefüllt zu werden. Gehorsam ließ sie sich auf die vorderste Kante von Toms schwarzem Ledersessel sinken. Das Leder knarzte erschreckend laut.
    «Wo ist Ihre Tochter, Frau Merbold?»
    «Mein Mann, Tom … kommt gleich mit ihr nach Hause. Er bringt sie aus dem Kindergarten mit.»
    Der Beamte warf seiner asketischen Kollegin einen hilfesuchenden Blick zu und rutschte auf der Couch nach vorn. «Frau Merbold … wir müssen Ihnen leider eine schlechte Nachricht überbringen. Ihr Mann ist heute gegen zehn Uhr verstorben.»
    Nein, das ist ein Irrtum. Sie irren sich. Tom ist zur Bank gefahren, wegen dem Geld für die Fenster und die Haustür. Er kommt gleich mit Lisa zurück. Heute gibt’s spanisches Omelett, sein Lieblingsgericht. Er hat mir doch versprochen, mich nie zu verlassen. Sie irren sich!
    Kristin meinte zu sprechen. Sie hörte ihre Worte, spürte sie über ihre Lippen fließen, und doch verließ kein einziges ihren Mund. Erst als der Beamte sie ansprach, setzte der Ton wieder ein. Wie bei einem Fernseher, der vorübergehend stumm geschaltet war.
    «Hab ich das Omelett von der Herdplatte genommen?», fragte Kristin.
    Die Beamten sahen sich an. Die Frau legte ihre Hand auf Kristins Unterarm.
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