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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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und dem Sturz auf der Rolltreppe. Verlegen gestand sie ein: »Ob der Milizionär wirklich meinen Namen gesagt hat … ich bin mir nicht sicher.«
    Domorow schwieg lange. Dann nahm er ihre Hand. »Galina Petrowna, Sie sollten gesund werden und nach Hause zu Ihren Söhnen fahren. Ilja hätte sicher nicht gewollt, dass Sie sich in Gefahr bringen.«
    Sie sah Domorow nie wieder, aber ihre Lage verbesserte sich nach seinem Besuch merklich. Die Schmerzmittel wurden ihr nicht mehr mit der Begründung, es gäbe keine, verweigert, und eine Frau Sundukowa kam einmal am Tag aus der Stadt und machte sich an Galinas Becken und Beinen zu schaffen. Als Galina sie fragte, sagte sie nur: »Machen Sie sich keine Gedanken, ich werde bezahlt.«
    Erste Stehversuche gelangen nach vierzehn Tagen und später die ersten Schritte, wenn Frau Sundukowa und Edita sie rechts und links stützten. Während Galina mühselig um jeden selbständigen Schritt kämpfte, trat die Suche nach der Geige in den Hintergrund. Sie schrieb an Lydia und ihre Söhne, und drei Wochen später kamen Pawel und Ossip in Moskau an. »Ein Unfall«, sagte sie ihnen, so wie sie es bereits geschrieben hatte, »ein unglückliches Ausrutschen auf der Rolltreppe.« Als Pawel nach der Geige fragte, hatte sie ihren Entschluss bereits gefasst. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit«, sagte sie, »wir müssen geduldig sein.« Immer wieder fasste sie nach den Händen der beiden. Sie würde das Leben ihrer Söhne nicht aufs Spiel setzen. Nicht für diese Geige.
    Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus wohnten sie noch einige Tage bei Edita. Galina konnte mit Hilfe zweier Krücken gehen und eine Hürde von ein oder zwei Stufen überwinden, ansonsten trug einer ihrer Söhne sie. Als sie nach vier Tagen auf die Abreise bestand, meinten alle, dass es verfrüht und sie den Strapazen nicht gewachsen sei. Aber sie setzte sich durch, wollte nur fort aus Moskau.
    Die tagelange Bahnreise zurück nach Alma-Ata war eine Tortur für ihre verletzte Hüfte, trotzdem empfand sie Erleichterung, je weiter sie sich von Moskau entfernten. Zu Hause angekommen, nahm Lydia Galinas Genesung in die Hand. Sie bestand darauf, dass sie den restlichen Sommer und Herbst bei ihr auf der Datscha verbrachte, und Galina erholte sich tatsächlich zusehends. Bald war sie nur noch auf einen Gehstock angewiesen, und im November kehrte sie zurück in ihre Wohnung und nahm die Arbeit in der Näherei wieder auf. Über die Geige sprach sie nicht mehr, und immer wenn einer ihrer Söhne davon anfing, wiederholte sie fast stoisch: »Jetzt ist nicht die Zeit.«
    Im Sommer 1970 setzte sich Lydia, nachdem sie im Gemüsegarten gearbeitet hatte, auf die kleine Veranda der Datscha und schlief friedlich und für immer ein.
    Galina verkaufte die Datscha.
    Mitte der siebziger Jahre wurden am Fuß des Tian-Schan-Gebirges große Kupfervorkommen entdeckt. Wohnsiedlungen für die Minenarbeiter sollten entstehen, eine kleine Stadt, so hieß es, würde gebaut. Mit großzügigen Zuschlägen lockte man Arbeitskräfte, und Pawel und Ossip nahmen das Angebot an. Zunächst lebten sie in einem der eilig hochgezogenen Arbeiterblocks, aber Galinas Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends, und bald konnte sie die Wohnung im zweiten Stock nicht mehr ohne Hilfe erreichen. Sie fanden ein kleines Haus mit Garten in einem nahe gelegenen Dorf. Galina investierte das Geld aus dem Verkauf der Datscha, und ihre Söhne richteten das Häuschen her. Ihr großes Glück waren einige Jahre später die Enkelkinder Alexander und Viktoria, die sie liebevoll Saschenka und Vikuscha nannte. Sie konnte mittlerweile gar nicht mehr gehen, zu ihrem Hüftleiden kam die Gicht.
    Und noch etwas geschah. Die politischen Verhältnisse änderten sich. Ossips Frau Maria war Wolgadeutsche, und nun gab es die Möglichkeit der Ausreise. Bundesrepublik Deutschland. Die geflüsterten Worte wehten voller Zuversicht durchs Haus. Ossip stellte Ausreiseanträge. Galina sprach jetzt wieder über die Geige, erzählte ihren Söhnen von Ilja, von der Zeit in Moskau, und holte die alten Bilder und Zeitungsausschnitte hervor. Sie legte Iljas Brief auf den Küchentisch, strich ihn vorsichtig glatt und las ihn vor. Jetzt sprach sie auch über ihren Treppensturz in der Moskauer Metrostation und sagte: »Ich meine, der Milizionär auf der Treppe hat meinen Namen gekannt.« Je öfter sie davon erzählte, desto deutlicher meinte sie sich zu erinnern, dass er ihn ausgesprochen hatte.
    Als nach
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