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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass
Autoren: Kirill Bulytschow
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Tiere habt ihr da erlegt“, sagte er, „nur das Fell ist schlecht. Es ist Sommerfell.“
    „Dick und Sergejew haben sie geschossen.“
„Du bist verärgert. Warst du bei Kristina?“
„Ja, dort ist alles in Ordnung. Ihr müßt ihnen neues Öl
    bringen, und ihre Kartoffeln gehen zur Neige.“
„Kannst beruhigt sein. Komm doch auf einen Sprung zu
mir rein, wir unterhalten uns noch bißchen, bevor ihr
aufbrecht.“
„Wär’s nicht günstiger, wir gingen zu mir?“
„Bei mir ist’s jetzt auch ruhig, die Zwillinge spielen
draußen.“
„Aber bleib nicht so lange!“ rief ihm die Mutter vom
Zaun aus nach.
Der Alte lächelte. Oleg nahm das Handtuch vom Haken
und hielt es ihm hin, damit er sich mit seiner einen Hand
abtrocknen konnte. Die Rechte hatte der Alte vor fünfzehn
Jahren eingebüßt, beim ersten Versuch, zum Gebirgspaß
vorzudringen.
Oleg begab sich ins Zimmer des Alten, setzte sich an
den Tisch, der von den Ellbogen der Schüler blankgewetzt
war, schob das selbstgebastelte Rechenbrett mit den getrockneten Nüssen anstelle der Steine beiseite. Wie oft hatte auch er als Schüler an diesem Tisch gesessen. Einige tausend Male. Fast alles, was er wußte, hatte er an diesem
Tisch erfahren.
„Dich fortzulassen, fällt mir am allerschwersten“, sagte
der Alte, als er ihm gegenüber auf dem Lehrerstuhl Platz
genommen hatte. „Ich hab gehofft, du würdest in ein paar
Jahren meine Stelle einnehmen und statt meiner die Kinder
unterrichten.“
„Ich komme zurück“, sagte Oleg. Doch seine Gedanken
waren bei Marjana: Was mochte sie jetzt tun? Die Pilze
hatte sie inzwischen
eingeweicht, danach ihr
Herbarium neu sortiert, ja, das
bestimmt. Ob sie am Packen
war? Mit ihrem Vater sprach?
Oder schlief?
„Hörst du mir überhaupt
zu?“
„Aber ja, natürlich.“
„Und doch hab ich darauf
gedrungen, daß man dich
mitnimmt zum Paß. Für dich
ist es wichtiger als für Dick
oder Marjana. Du bist dort
gewissermaßen die
Verkörperung meiner Augen,

    meiner Hände.“
Der Alte hob seine Hand hoch und betrachtete sie so
interessiert, als sähe er sie zum ersten Mal. Er hing seinen
Gedanken nach. Oleg schwieg, musterte den Raum. Es war
eine Angewohnheit des Alten, ganz unvermittelt für ein
oder zwei Minuten zu verstummen. Jeder hatte seine
Schwächen. Die Flamme der Lampe spiegelte sich in dem
glänzenden, stets sauberen Mikroskop, dem das Hauptglas
fehlte. Sergejew hatte dem Alten schon tausendmal erklärt,
daß sie es sich nicht leisten könnten, ein leeres und damit
unnützes Rohr als Verzierung auf dem Bord zu belassen, er
wollte es für seine Werkstatt. ‚Borja‘, hatte er gesagt, ‚ich
mach zwei herrliche Messer draus.‘ Doch der Alte rückte
das Mikroskop nicht heraus.
„Entschuldige“, sagte der Greis. Er zwinkerte zweimal
mit den gütigen grauen Augen und strich über seinen
sorgfältig gestutzten weißen Bart, der ihm von Tante Luisa
aus unerfindlichem Grund den Spitznamen ‚Kaufmann‘
eingetragen hatte. „Entschuldige, ich habe nachgedacht.
Und weißt du, worüber? Daß es in der Geschichte der Erde
schon früher Fälle gab, wo aus dem oder jenem
unglücklichen Umstand heraus eine kleine Gruppe
Menschen plötzlich von der allgemeinen Zivilisation
abgeschnitten war. Damit aber wären wir schon bei der
qualitativen Analyse …“
Der Alte verstummte erneut und kaute auf seinen
Lippen herum, er hatte sich abermals in seine Gedanken vertieft. Oleg kannte das schon. Es gefiel ihm, bei dem alten Mann zu sitzen, einfach so dazusitzen und zu schweigen. Ihm schien dann immer, der Alte habe so viel Wissen in sich gespeichert, daß selbst die Luft des Raumes
davon ausgefüllt war.
„Dem einen Menschen genügen zur Rückentwicklung
wenige Jahre, vorausgesetzt, er war eine tabula rasa. Es ist
bekannt, daß Kleinkinder, die aus irgendwelchen Gründen
unter Wölfe oder Tiger gerieten — solche Fälle hat es in
Indien und Afrika ja gegeben —, nach einigen Jahren
hoffnungslos hinter ihren Altersgefährten zurückblieben.
Sie wurden debil. Debil bedeutet …“
„Ich weiß …“, sagte Oleg.
„Entschuldige. Es gelang nicht, sie der Menschheit
zurückzugeben. Sie gingen sogar nur noch auf allen
Vieren.“
„Und wie steht’s mit Erwachsenen?“
„Einen Erwachsenen würden die Wölfe nicht
annehmen.“
„Und wenn er auf eine unbewohnte Insel geriete?“ „Da gibt’s verschiedene Varianten, dennoch entwickelt
sich der Mensch unausweichlich zurück … Die Stufe der
Degradation freilich …“ Der Alte sah Oleg
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