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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirill Bulytschow
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an, der nickte
— er kannte dieses Wort. „Die Stufe der Degradation
hängt vom Niveau ab, auf dem sich der Betreffende zum
Zeitpunkt der Isolation befand, auch von seinem Charakter.
Doch man kann kein historisches Experiment auf einer einzelnen Person begründen. Wir sprachen stets vom Sozium, der Gruppe. Kann sich also eine Gruppe von Menschen im Falle einer Isolation auf dem kulturellen Niveau halten, auf dem sie sich zum Zeitpunkt der
Abtrennung befand?“
„Sie kann“, sagte Oleg. „Wir sind so ein Beispiel.“ „Sie kann nicht“, widersprach der Alte. „Aber während
für einen Säugling fünf Monate zur Rückentwicklung
genügen, braucht eine Gruppe, selbst wenn sie überlebt,
zwei bis drei Generationen dazu, ein Stamm — noch mehr
Generationen … ein Volk möglicherweise ein ganzes
Jahrhundert. Umkehrbar jedoch ist der Prozeß nicht, das
hat die Geschichte erwiesen. Nehmen wir mal die
australischen Aborigenes …“
Olegs Mutter kam herein, sie hatte sich gekämmt und
einen frischen Rock angezogen.
„Ich sitz noch ein bißchen bei euch“, sagte sie. „Tu das, Irotschka“, sagte der Alte. „Wir unterhalten
uns gerade über den sozialen Progreß, genauer gesagt,
Regreß.“
„Ja, ja ich weiß“, erwiderte die Mutter. „Du bist der
Meinung, daß wir in einiger Zeit auf allen vieren zu laufen
beginnen. Ich aber halte dir entgegen: Bis es dazu kommt,
sind wir alle verreckt. Gott sei Dank. Es steht mir bis hier.“ „Ihm aber nicht“, entgegnete der Alte. „Und meinen
Zwillingen auch nicht.“
„Einzig für ihn lebe ich“, sagte die Mutter, „ihr jedoch
schickt ihn in den sicheren Tod.“
„Wenn du’s so betrachtest, Ira, droht uns der Tod hier
täglich. Der Wald bedeutet Tod, und der Winter
Überschwemmung, Orkan, der Stich einer Hummel
bedeuten gleichfalls Tod. Und woher er gekrochen kommt,
welche Gestalt er annimmt, wissen wir nicht.“
„Er kommt, wann es ihm paßt, und nimmt sich den, der
ihm paßt“, erwiderte die Mutter. „Einen nach dem
anderen.“
„Und doch sind wir jetzt mehr Leute als vor fünf Jahren.
Die Schwierigkeit liegt nicht im physischen Überleben,
sondern im moralischen.“
„Ja, aber die Leute wie du und ich sind weniger
geworden! Verstehst du denn nicht, unsresgleichen gibt’s
fast gar nicht mehr! Was können diese Welpen schon ohne
uns?“
„So allerhand“, sagte Oleg. „Oder würdest du allein in
den Wald gehn?“
„Ich würd mich lieber aufhängen. Hab ja mitunter sogar
Angst, auf die Straße zu gehn.“
„Ich dagegen würd auf der Stelle losziehn. Und
zurückkommen, mit Beute.“
„Dick und Marjaschka haben sie heute mit Müh und
Not gerettet.“
„Das war Zufall. Du weißt genau, daß Schakale kaum
im Rudel auftreten.“
„Gar nichts weiß ich! Sind sie nun im Rudel gewesen
oder nicht? Sind sie’s?“
„Nun ja …“
„Also sie sind.“
Oleg widersprach nicht weiter, und auch die Mutter
verstummte. Der Alte seufzte und fuhr, die Gesprächspause
nutzend, in seinem Monolog fort:
„Erst heute ist mir wieder eine Geschichte in den Sinn
gekommen. Endlos lange hab ich nicht mehr an sie
gedacht, plötzlich aber fiel sie mir ein. Vielleicht weil sie
einfach in die Situation paßt. Es war im Jahre 1530, kurz
nach der Entdeckung Amerikas. Ein deutsches
Walfangschiff, das südlich von Island auf Jagd war, geriet
in einen Sturm und wurde nach Nordwesten abgetrieben, in
unbekannte Gewässer. Einige Tage lang irrte das Schiff
zwischen Eisbergen umher. Ein Eisberg ist …“
„Ich weiß“, sagte Oleg, „ein treibender Gletscher.“ „Richtig. Einige Tage trieb das Schiff also zwischen
diesen Gletschern, und endlich tauchten die
schneebedeckten Gebirgsufer eines unbekannten Landes
vor ihnen auf. Es war das heutige Grönland. Das Schiff
warf Anker, und die Matrosen gingen an Land. Stellt euch
aber ihre Verblüffung vor, als sie schon bald auf eine
halbzerstörte Kirche stießen und auf die Überreste von
Steinhütten. In einer dieser Hütten fanden sie die Leiche
eines rothaarigen Mannes, dessen Kleidung recht und
schlecht aus Robbenfell genäht war. Neben ihm lag ein
stumpf gewordenes Messer. Und nichts als Einöde, Kälte,
Schnee ringsum …“
„Mach uns keine Angst, Borja“, sagte die Mutter, ihre
Finger trommelten nervös auf den Tisch. „Das sind doch
pseudohistorische Märchen.“
„Moment mal, das ist absolut kein Märchen, sondern
dokumentarisch verbürgt. Jener Mann war der letzte
Wikinger. Weißt du noch, Oleg, wer die Wikinger waren?“

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