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Der Gebirgspass

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Titel: Der Gebirgspass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirill Bulytschow
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„Ja, Sie haben uns von ihnen erzählt.“
„Die Wikinger durchfurchten die Meere, eroberten viele
Länder, besiedelten Island, landeten in Amerika, das sie
Winland nannten, begründeten sogar ein Reich in Sizilien.
Und sie besaßen eine große Kolonie in Grönland. Dort gab
es mehrere Siedlungen mit Steinhäusern, Kirchen und
dergleichen. Doch dann liefen die Schiffe der Wikinger
eines Tages nicht mehr aus. Ihre Kolonien fielen an andere
Völker oder wurden im Stich gelassen. So riß auch die
Verbindung zur Kolonie in Grönland ab. Gleichzeitig
gestaltete sich das Klima in jener Zeit immer rauher, das
Vieh verhungerte, die Saat erfror, die Siedlungen verfielen.
Und zwar in erster Linie, weil sie die Verbindung zur
Außenwelt verloren hatten. Die Grönländer, einst tapfere
Seefahrer, verlernten es, Schiffe zu bauen, wurden immer
weniger Leute. Es ist bekannt, daß Mitte des XV.
Jahrhunderts in der letzten Kirche Grönlands die letzte Ehe
geschlossen wurde. Die Nachfahren der Wikinger
verwilderten, waren am Ende zu wenige, um den Unbilden
widerstehen zu können, einen Progreß zu bewirken oder auch nur das Alte zu bewahren. Also wirklich, kannst du dir eine solche Tragödie vorstellen — die letzte Hochzeit im ganzen Land?“ Der Alte hatte sich bei diesen Worten
Olegs Mutter zugewandt.
„Deine Vergleiche können mich nicht überzeugen“,
sagte sie. „Ob es nun viele Wikinger waren oder wenige —
nichts hätte sie gerettet.“
„Dabei hatten sie sich dem Klima angepaßt. Hatten sich
in fünfhundert Jahren angepaßt und sind dennoch
ausgestorben. Wo es doch eine Alternative gab. Wäre das
besagte deutsche Schiff dreißig Jahre früher gekommen,
alles hätte sich anders entwickelt. Die Wikinger hätten sich
aufs Festland begeben und in die Menschenfamilie
zurückkehren können. Und umgekehrt: Hätten sich
Beziehungen zu anderen Ländern herausgebildet, wären
Kaufleute, neue Siedler gekommen oder wenigstens neue
Produktionsmittel, neues Wissen aus der Welt zu den
Insulanern gelangt — alles wäre anders gelaufen …“ „Zu uns wird nie ein Schiff kommen,“ sagte die Mutter. „Unsere Rettung besteht nicht darin, daß wir uns in die
Natur einleben“, sagte der Alte bestimmt, diesmal an Oleg
gewandt. „Wir sind auf Hilfe angewiesen. Auf die Hilfe
der übrigen Menschheit. Deshalb bestehe ich darauf, daß
dein Sohn zum Gebirgspaß geht. Wir tragen die Erinnerung
noch in uns, und es ist unsere Pflicht, den Faden nicht
abreißen zu lassen.“
„Ist doch sinnloses Gerede“, sagte die Mutter müde.
„Soll ich Wasser warm machen?“
„Tu das“, sagte der Alte, „gönnen wir uns was. Uns
droht das Vergessen. Schon jetzt werden es immer weniger
Menschen, die wenigstens ein Bruchteil von menschlicher
Weisheit, Zivilisation und Wissen in sich tragen. Die einen
sterben, andere verunglücken, wieder andere sind mit dem
Kampf ums Überleben aus gefüllt … Und nun bildet sich
eine neue Generation heraus. Du und Marjana, ihr seid
noch nicht so stark geprägt, seid eine Art Übergangsetappe,
ein Kettenglied, das uns mit der Zukunft verbindet. Kannst
du dir vorstellen, wie diese Zukunft einmal aussehen
wird?“
„Wir fürchten den Wald nicht mehr“, sagte Oleg. „Wir
kennen die Bäume und Pilze, wir können in der Steppe
jagen …“
„Ich habe Angst vor der Zukunft, in der ein neuer
Menschenschlag vom Typ eines Jägers Dick die Oberhand
hat. Er ist für mich ein Symbol des Rückzugs, ein Symbol
für die Niederlage des Menschen im Kampf mit der
Natur.“
„Richard ist ein guter Junge“, sagte die Mutter aus der
Küche. „Er hat es schwer allein.“
„Ich spreche nicht vom Charakter“, sagte der Alte,
„sondern von ihm als sozialer Erscheinung. Wann lernst du
es endlich, vom alltäglichen Kleinkram zu abstrahieren,
Irina?“
„Abstrahieren hin, abstrahieren her“, erwiderte die Mutter, „hätte Dick in diesem Winter nicht Bären erlegt,
wir wären wahrscheinlich allesamt verhungert.“ „Dick fühlt sich hier bereits als Ureinwohner, als Herr
des Waldes. Er kommt schon volle fünf Jahre nicht mehr
zu mir. Ich bin nicht sicher, ob er das Alphabet überhaupt
noch kennt.“
„Wozu auch?“ sagte die Mutter. „Es gibt ja doch keine
Bücher hier. Und niemanden, an den man einen Brief
schreiben könnte.“
„Dick kennt viele Lieder“, sagte Oleg. „Er schreibt
sogar selber welche.“ Oleg schämte sich ein bißchen, denn
die ablehnende Haltung des Alten gegenüber Dick war ihm
angenehm. Deshalb

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