Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass
Autoren: Kirill Bulytschow
Vom Netzwerk:
Vielleicht hatte Marjana ihn darum gebeten?
„Dieses Jahr gibt es viele Fliegen“, sagte die Mutter, „sie frieren im Wald.“
„Da hast du ja was für dein Mitleid gefunden.“
Das Haus war in der Mitte geteilt, die andere Hälfte vom Alten und den Durow–Zwillingen bewohnt. Er hatte sie nach dem Tod ihrer Eltern zu sich genommen. Die Zwillinge waren stets krank: Kaum wurde der eine gesund, erkältete sich der andere.
Wäre nicht ihr ständiges nächtliches Gewimmer — Oleg hätte die Nachtwachen nie und nimmer übernommen. Auch jetzt wieder begannen sie einhellig zu greinen, sie hatten Hunger. Das undeutliche ferne Gemurmel des Alten, an das man wie an den Wind gewöhnt war, verstummte, die Bank quietschte. Er war in die Küche gegangen, und sofort begannen auch seine Schüler zu lärmen.
„Was hast du dort zu suchen“, sagte die Mutter, „ihr kommt sowieso nicht ans Ziel! Es wäre schon Glück, wenn ihr heil zurückkehrt.“
Gleich würde sie zu weinen anfangen. Die Mutter heulte oft in letzter Zeit. Vor allem nachts. Sie brabbelt vor sich hin, wälzt sich von einer Seite auf die andere und beginnt dann leise zu weinen, man errät es am Schniefen ihrer Nase. Oder sie fängt beschwörend an zu flüstern: „Ich kann nicht mehr, nein, ich kann nicht mehr! Da schon lieber sterben …“ Oleg hielt den Atem an, wenn er das hörte. Es war ihm peinlich, merken zu lassen, daß er nicht schlief ganz so, als hätte er etwas belauscht, das zu belauschen sich nicht ziemte. Er schämte sich auch, weil er kein Mitleid mit der Mutter empfand. Sie weinte Dingen hinterher, die für Oleg nicht existierten. Sie weinte um Länder, die er nie sehen würde, um Menschen, die nie hier gelebt hatten. Er hatte seine Mutter nie anders gekannt als in ihrer jetzigen Gestalt: eine hagere, sehnige Frau mit glattem, scheckigen Haar, das zu einem Nackenknoten gebunden war, sich aber immer wieder löste und ihr in schweren Strähnen ins Gesicht fiel — sie mußte es ständig aus der Stirn blasen. Das Gesicht war rot und voller Narben von Kollerdisteln, sie hatte dunkle Augenringe, die Augen selbst dagegen waren viel zu hell, wie ausgeblichen. Die Mutter saß am Tisch, hatte die schwieligen Hände mit den flachen, harten Handflächen nach unten, vor sich hingelegt. Nun fang schon an zu weinen, was wartest du noch, dachte Oleg. Oder würde sie jetzt wieder das Foto vorholen? Richtig, sie zog das Kästchen zu sich heran, öffnete es und entnahm ihm eine Fotografie.
Der Alte hinter der Wand redete den Zwilling gut zu, damit sie aßen, sie aber greinten. Die Schüler lärmten, halfen dem Alten, die Kleinen zu füttern. Alles war wie an einem ganz gewöhnlichen Tag, als stünde nichts Besonderes bevor … Was machten die bloß so lange im Wald? Bald war Mittag, dann wollten sie aufbrechen. Wirklich Zeit, daß sie zurückkamen. Doch im Wald konnte einem ja sonstwas zustoßen.
Die Mutter betrachtete das Foto. Es zeigte sie und den Vater. Oleg hatte dieses Bild bereits tausende Male gesehen und eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem Vater zu erkennen versucht. Es war ihm nicht gelungen. Der Vater hatte helles, lockiges Haar, volle Lippen und ein energisches Kinn. Er lächelte. Die Mutter sagte, daß er fast immer lächelte. Oleg fand sich da schon eher der Mutter ähnlich. Nicht der von heute, sondern der Frau auf dem Bild neben dem Vater. Glattes schwarzes Haar und blasse Lippen. Breite geschwungene Brauen, darunter strahlende blaue Augen. Und helle, sehr helle Haut, die Wangen allerdings kräftig–rot. Oleg errötete gleichfalls sehr leicht. Und er hatte auch schmale Lippen, glatte schwarze Haare, genau wie die Mutter auf dem Foto. Die Eltern standen dort sehr jung und fröhlich nebeneinander. Und auffallend schmuck. Der Vater in Uniform, die Mutter in schulterfreiem Kleid man sagte wohl Sarafan dazu. Damals, vor zwanzig Jahren, hatte es ihn, Oleg, noch nicht gegeben. Vor fünfzehn Jahren

    dagegen schon.
„Mutter“, sagte Oleg, „hör auf, was soll’s.“
„Ich laß dich nicht gehn“, erwiderte die Mutter „ich laß dich nicht und basta. Nur über meine Leiche.“
„Mutter“, sagte Oleg und setzte sich im Bett auf, „genug jetzt, ja? Ich eß lieber was von der Suppe.“
„Hol sie dir aus der Küche, sie müßte noch warm sein.“
Ihre Augen waren feucht. Sie hatte also doch geweint, als ob sie Oleg bereits beerdigt hätte. Aber vielleicht galten die Tränen auch dem Vater. Diese Fotografie war für sie der lebende Mensch. Oleg
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher