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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass
Autoren: Kirill Bulytschow
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Großvater? Die Genetik war schon eine erstaunliche Sache. Der Alte in seinem Treibhaus — eine Grube hinter dem Schuppen, sie war Marjanas Reich — führte mit seinen Schülern die Mendelschen Erbsenversuche durch. Nur daß er keine Erbsen dazu nahm, sondern hiesige Linsen. Es gab da, von einigen Abweichungen abgesehen, ziemliche Übereinstimmung. Natürlich mit anderer Zusammensetzung der Chromosomen.
Marjana hatte ein dreieckiges Gesicht, Stirn und Wangenknochen waren breit, das Kinn dagegen spitz, so daß die Augen viel Platz im Gesicht hatten und auch allen Raum einnahmen. An ihrem langen Hals befand sich von Kindheit an seitlich eine rosa Narbe. An die Narbe hatte sie sich gewöhnt, wegen der Kollerdisteln jedoch grämte sie sich. War es nicht völlig egal, ob ein Mensch Punkte im Gesicht hatte oder nicht? Alle hatten solche Punkte. Statt einer Kette aber, wie sie alle Frauen und Mädchen im Dorf trugen, hatte Marjana eine Schnur um den Hals, an der ein Holzfläschchen mit dem Gegengift hing. Die Männer trugen diese Arznei in der Tasche.
„Stell dir bloß mal vor, der Marsch endet tragisch“, sagte Sergejew.
„Da ich daran teilnehme, möchte ich mir das nicht vorstellen“, erwiderte Thomas.
Waitkus lachte erneut, irgendwo in der Mitte seines Bartes blubberte es.
„Die Jungs — Dick und Oleg — sind die Hoffnung unseres Dorfes, unsere Zukunft“, gab Sergejew erneut zu bedenken. „Und du bist einer der vier letzten Männer hier.“
„Mich könnt ihr dazurechnen“, sagte Tante Luisa mit Baßstimme und blies kräftig in die Tasse, um das kochend heiße Wasser abzukühlen.
„Mich kannst du nicht schwankend machen“, sagte Thomas an Sergejew gewandt. „Aber wenn du große Angst hast, lassen wir Marjana eben hier.“
„Natürlich hab ich Angst um meine Tochter, doch jetzt geht’s um grundsätzlichere Dinge.“
„Ich geh die Pilze einweichen“, Marjana erhob sich leichtfüßig.
„Nur Haut und Knochen“, sagte Tante Luisa, die ihr nachschaute.
Als Marjana an ihrem Vater vorüberging, berührte sie mit den Fingerspitzen sacht seine Schulter. Er hob seine Hand mit den drei Fingern, um sie auf Marjanas Hand zu legen, doch sie zog sie schnell weg und ging zur Tür. Sie öffnete die Tür, so daß das gleichmäßige Rauschen des Regens in den Raum drang und schlug sie laut hinter sich zu. Oleg wollte hinter dem Mädchen herstürzen, hielt sich jedoch zurück: Es hätte merkwürdig ausgesehen.
Aus dem Nebenzimmer kam auf unsicheren Beinen der jüngere von Waitkus’ Söhnen, er war etwa anderthalb Jahre alt. Der ältere war in jenem bewußten Frühjahr geboren, der hier dagegen erst kürzlich, als der Schnee fiel, das heißt vor anderthalb Jahren. Alles in allem hatten die Waitkus’ sechs Kinder, so etwas wie ein Weltrekord.
„Zucker!“ verlangte das Kind launisch.
„Ich werd dir gleich Zucker geben!“ entrüstete sich Egli. „Wem tun denn immer die Zähne weh, mir vielleicht? Und wer läuft mit nackten Füßen rum, ich etwas?“ Sie hob den Jungen hoch und trug ihn hinaus.
Oleg bemerkte, daß seine Hand ganz von allein abermals nach dem Zucker in der Schüssel langte. Er wurde ärgerlich auf sich und schüttete den Löffel wieder zurück. Dann führte er ihn leer an den Mund und leckte ihn ab.
„Na komm, ich gieß dir noch ein bißchen heißes Wasser nach“, sagte Tante Luisa. „Wie sehr mich unsre Kinder dauern, nie werden sie richtig satt.“
„Jetzt geht’s ja noch“, Egli war wieder ins Zimmer gekommen, gefolgt vom Baßgebrüll ihres Jüngsten. „Zur Zeit gibt’s Pilze, und Vitamine haben wir auch. Nur mit dem Fett steht’s schlecht …“
„So, nun gehn wir aber“, sagte Tante Luisa, „du siehst schon ganz blaß aus.“
„Du weißt ja, weshalb“, sagte Egli und zwang sich zu einem Lächeln. Doch es wurde mehr eine Grimasse, so als hätte sie Schmerzen.
Egli hatte vor einem Monat ein Mädchen zur Welt gebracht, eine Totgeburt. Der Alte sagte, sie sei nicht mehr jung genug zum Gebären, auch sei ihr Organismus geschwächt. Doch Egli war ein pflichtbewußter Mensch — der Stamm sollte nicht aussterben. Oleg verstand das alles, dennoch waren ihm solche Gespräche unangenehm, irgendwie ziemte es sich seiner Meinung nach nicht, darüber zu reden.
„Danke für die Bewirtung“, sagte Tante Luisa.
„Möcht nur wissen, wie du es geschafft hast, so dick zu werden“, sagte Thomas, der die massive Gestalt Tante Luisas zur Tür schwimmen sah.
„Das kommt bei mir nicht vom guten
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