Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass
Autoren: Kirill Bulytschow
Vom Netzwerk:
wobei er fast den Haken herausriß. Wo waren die
Pfeile? Unter dem Tisch? Hoffentlich hatten die Zwillinge
sie nicht fortgeschleppt.
„Die Pfeile sind hinter dem Herd“, sagte die Mutter.
„Was ist passiert? Etwas mit Marjana?“
Der Alte kam mit einem Speer aus dem Haus gestürzt.
Er konnte nicht mit der Armbrust umgehn — wie sollte er auch, mit einem Arm? Oleg überholte ihn und zog einen Pfeil aus dem Köcher, was man im Laufen besser nicht tat.
Die ganze Kinderschar Dorfes stürmte zum Zaun. „Zurück mit euch!“ rief Oleg drohend, doch niemand
gehorchte.
Neben Thomas stand bereits Sergejew, einen großen
Bogen in der Hand. Die Männer verharrten reglos,
lauschten angespannt. Sergejew hob die Hand, an der zwei
Finger fehlten, gebot jenen, die angerannt kamen,
stehenzubleiben.
Da ertönte aus der glatten
grauen Wand des Waldes ein
Schrei. Es war der Schrei eines
Menschen, fern, kurz, wie
abgehackt. Danach unendliche
Stille, denn kein Mensch in der
Siedlung wagte zu atmen.
Selbst die Säuglinge in der
Wiege verstummten. Und Oleg
stellte sich vor, mehr noch, er
sah förmlich, wie dort, hinter
der Wand von Regen und
weißlichen Stämmen, in dem
Wald, der lebte, atmete, voller
Bewegung war, Marjana stand,
den Rücken gegen die warme,
brennende Rinde der Kiefer

    gepreßt, während Dick auf den Knien liegend — Blut spritzt aus seiner von den Schakalzähnen zerfetzten Hand
—, versucht den Speer zu fassen …
„Alter!“ rief Thomas. „Bleib hier am Zaun. Du, Oleg,
kommst mit uns!“
Am Waldrand wurden sie von Tante Luisa mit ihrer
berühmten Axt eingeholt — sie hatte damit im vorigen Jahr
einen Bären abgewehrt. In der anderen Hand hielt sie ein
schwelendes Holzscheit. Tante Luisa war eine große,
dicke, furchteinflößende Frau; ihre kurzen grauen Zotteln
standen in alle Richtungen, ihr sackförmiges Kleid war zur
Glocke gebläht. Selbst die Bäume zogen ängstlich die
Zweige zurück und rollten die Blätter ein, denn Tante
Luisa war wie der böse Geist, der zur Winterszeit in der
Schlucht brüllte. Als sie über eine Räuberliane stolperte,
stürzte die, statt ihr Opfer mit den Fangarmen packen, zum
Stamm und versteckte sich dahinter wie eine feige
Schlange.
Thomas blieb so unvermittelt stehen, daß Sergejew um
ein Haar auf ihn aufgerannt wäre. Dann steckte er zwei
Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus,
wie ihn kein anderer im Dorf zustande brachte.
Als der Pfiff verhallte, wurde Oleg klar, wie sehr der
Wald dieses Füßestampfen fürchtete, diesen Alarm und
den Unmut der Menschen; ganz klein machte er sich. Nur
das schwere Atmen der korpulenten Tante Luisa war zu
hören.
„Hierher!“ rief Marjana. Ihre Stimme war ganz nahe. Es
klang auch weniger wie ein Schrei, sondern so, als ob man
jemanden vom anderen Ende der Siedlung riefe. Dann, als
sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten, vernahm Oleg
die Stimme Dicks, genauer sein fast tierisches Brüllen und
das wilde Toben eines Schakals.
Oleg scherte seitlich aus, um Tante Luisa zu überholen,
doch vor ihm tauchte der Rücken Sergejews auf, der sich
nicht einmal richtig angezogen hatte, ohne Jacke war, nur
mit Hemd und Lederhose bekleidet. Marjana aber stand da,
wie Oleg sie vor seinem geistigen Auge gesehen hatte:
gegen den weichen weißen Stamm einer alten dicken
Kiefer gepreßt, der sich leicht nach innen bog, als wollte er
dem Mädchen Schutz bieten. Dick dagegen lag nicht auf
den Knien. Er kämpfte mit einem Messer gegen einen
großen grauen Schakal, der den Hieben auswich, zischend
und sich verrenkend. Ein anderer Schakal wälzte sich
seitlich auf der Erde, er hatte einen Pfeil in der Flanke.
Fünf weitere Tiere, wenn nicht mehr, saßen abseits in einer
Reihe, wie Zuschauer. Es war eine seltsame Eigenschaft
der Schakale, niemals im Trupp anzugreifen, sondern
abzuwarten. Wenn der erste mit dem Opfer nicht fertig
wurde, attackierte der nächste. Und das solange, bis sie
gesiegt hatten. Sie empfanden kein Mitleid füreinander,
begriffen die Sache gar nicht. Sergejew hatte eines Tages
einen Schakal seziert und nicht ein Stückchen Gehirn bei
ihm gefunden.
Die Schakale in ihrer Abwartehaltung wandten wie auf
Kommando ihre Schnauzen den Leuten zu, die auf die
Lichtung gestürzt kamen. Oleg hatte den Eindruck, daß die
roten punktförmigen Augen der Tiere ihn vorwurfsvoll
anschauten: Ist das vielleicht fair, im Trupp anzugreifen? Der Schakal, der sich die ganze Zeit bemüht hatte, das
Messer mit den Zähnen zu packen, fiel wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher