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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass
Autoren: Kirill Bulytschow
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niedergemäht
auf die Seite; aus seinem langen Hals ragte ein Pfeil.
Thomas hatte bereits geschossen, während Oleg noch die
Szene auf der Lichtung betrachtete. Er hatte jene Sekunde
genutzt, die Oleg brauchte, um sich ein Bild von der
Situation zu machen. Dick aber,
als hätte er bloß darauf gewartet,
drehte sich jäh zu den anderen
Schakalen um und stürzte mit
dem Speer auf sie los. Schon
waren auch Sergejew und Tante
Luisa mit Axt und Holzscheit
bei ihm. Noch ehe die Tiere
begriffen, daß sie flüchten
mußten, lagen zwei von ihnen
tot am Boden. Die anderen
liefen geduckt, die schuppigen
flachen Schwanzspitzen gegen
das kahle Genick gepreßt, ins
Dickicht. Niemand folgte ihnen. Oleg ging auf Marjana zu:

    „Alles in Ordnung?“
Das Mädchen weinte. Preßte den Sack mit den
zappelnden Pilzen an die Brust und weinte bitterlich. „Nun sprich endlich!“
„Die Kollerdistel hat mich zerstochen“, schluchzte
Marjana, „ich werd ganz pockennarbig aussehn.“ „Schade, daß ihr so schnell gekommen seid“, sagte Dick
und wischte sich das Blut von der Wange, „gerade fing ich
an, Geschmack an der Sache zu finden.“
„Red keinen Unsinn“, wies ihn Tante Luisa zurecht. „Der dritte oder vierte hätte dir den Garaus gemacht“,
sagte Sergejew.
    Auf dem Weg zur Siedlung bekam Dick Schüttelfrost, Schakalzähne hatten noch keinem gut getan. Alle begaben sich sofort zum Haus von Waitkus. Waitkus selbst lag krank im Bett, seine Frau Egli aber holte aus der Apotheke — einem Schrank in der Ecke — Verbandzeug und einen Aufguß gegen Schakalgift. Dann wusch sie Dicks Wunde aus und hieß ihn schlafengehn. Marjana wollte Dick begleiten, doch er lehnte ab. Er haßte seine eigene Schwäche. In ein, zwei Stunden würde sich das Fieber geben; er wollte nicht, daß andere ihn sahen, solange es ihm schlecht ging.
    Egli stellte eine Schüssel mit Zucker auf den Tisch, der aus den Wurzeln des im Sumpf wachsenden Riedgrases gewonnen wurde. Nur sie und Marjana wußten, woran man das süße Riedgras vom gewöhnlichen unterschied. Außer vielleicht den Kindern, die mit einem sechsten Sinn errieten, welches Gras gut schmeckte und welches nicht berührt werden durfte. Egli goß kochendes Wasser in die Tassen, und jeder nahm sich mit einem Löffel von dem grauen Zuckerbrei. Bei den Waitkus’ ging es ungezwungen zu, deshalb kamen alle gern zu ihnen.
    „Es steht doch nicht schlimm um Dick?“ erkundigte sich Thomas bei Egli, obwohl er schon dreimal gefragt hatte.
    „Der ist wie eine Katze, bei ihm verheilt’s sofort.“
    Sergejew wechselte unvermittelt das Thema: „Du zögerst noch?“
„Nein, ich zögre nicht“, erwiderte Thomas, „wir haben ja gar keinen anderen Ausweg. Oder willst du weitere drei Jahre warten? Das überstehn wir nicht, wir verhungern.“
„Wir würden’s schon überstehen“, ließ sich Waitkus vom Bett aus vernehmen. Kopf– und Barthaare verdeckten fast vollständig sein Gesicht. Nur die rote Nase und die hellen Augen waren zu sehen. Man hätte nicht sagen können, wo die dünne Stimme herkam. „Wir würden’s schon überstehen, nur verwildern wir dann endgültig.“
„Das kommt aufs selbe raus“, sagte Thomas. „Wenn ich diesen Daniel Defoe zwischen die Finger kriegte —seine Erfindungen sind jämmerlich gegen das hier.“
Waitkus lachte. Es klang, als hustete er.
Oleg hörte solche Gespräche nicht zum ersten Mal. Sie jetzt zu führen, war reine Zeitverschwendung. Er wollte in den Schuppen gehen, in dem der Alte mit den Schülern die toten Schakale häutete, wollte mit ihm reden. Einfach reden. Doch dann fiel sein Blick auf die Schüssel mit dem Zucker, und er beschloß noch ein bißchen davon zu nehmen. Er und die Mutter hatten ihre Ration schon in der vorigen Woche aufgebraucht. Er schöpfte den Löffel nur zur Hälfte voll, schließlich war er nicht hergekommen, um sich sattzuessen.
„Trink, Marjaschka“, sagte Egli, „du bist gewiß müde.“
„Danke“, sagte Marjana, „ich geh nur die Pilze einweichen, sonst schlafen sie ein.“
Oleg musterte Marjana, als sähe er sie zum ersten Mal, er vergaß sogar den Löffel an den Mund zuführen. Die Lippen des Mädchens waren wie gemalt, klar konturiert, an den Rändern eine Spur dunkler. Erstaunliche Lippen, niemand im ganzen Dorf hatte solche. Obwohl eine leichte Ähnlichkeit mit Sergejew nicht zu verkennen war. Wahrscheinlich sah sie auch ihrer Mutter ähnlich, doch an die erinnerte sich Oleg nicht. Wer weiß, vielleicht

    glich sie dem
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