Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Autoren: Jonathan Lethem
Vom Netzwerk:
Albert Zimmer war nach Europa zurückgeflohen. Was war Roses gescheiterte Ehe anderes als der Beweis, dass im Gegensatz zur großen Fabel der amerikanischen Geschichte die Ketten Europas niemals abzustreifen waren?
    —
    Und was waren Albert Zimmer und Rose Angrush denn anderes als eine kurzzeitig in Erwägung gezogene Unwahrscheinlichkeit? Einen Augenblick geduldet und dann demoliert, demontiert aus mindestens drei Richtungen zugleich: ihrer Familie, seiner Familie und der Partei. Der hochgradig assimilierte Deutsche, der sich mit Rose der Polackin zusammentat, Rose der Russin, Rose der Immigrantin, der Brooklyner Jüdin in zweiter Generation. Anders als in sämtlichen Komödien, die sich jüdische Drehbuchautoren je ausgedacht hatten, um vom Refugium Hollywood aus Klassenunterschiede zu verspotten, ging es hier um Trennungen, die von Liebesbanden gerade nicht zu überbrücken waren. Das war kein Lustspiel , hier ging es um Verluste . Nicht Es geschah in einer Nacht, sondern Es geschah nie.
    Wie war überhaupt versucht worden, es geschehen zu lassen?
    Ganz einfach. In einem rappelvollen, von unzähligen Stimmen widerhallenden Versammlungssaal in der Nähe von Gramercy Park traf unter einer hohen verzierten Decke ein Maulwurf den anderen. Auf der einen Seite des Saals saß Rose auf einem knarrenden Klappstuhl aus Holz, auf der anderen saß Albert auf einem identischen Stuhl. Beide wollten die Zuhörerschaft erreichen und deren Unschuld und Idealismus in eine vorgegebene Richtung lenken, beide waren erpicht darauf, zu ihren Kontaktleuten zurückzulaufen und damit zu prahlen, wen sie alles angeworben hatten, und beide standen sie einander im Weg. Oh, es war an der Zeit: Albert und Rose entdeckten einander, weil sie beide von ihren verschiedenen und schlecht koordinierten Zellen den Auftrag erhalten hatten, dieselbe Organisation zu unterwandern, die Young People’s League von Gramercy Park. Um die schwammig wohlmeinende Versammlung mit der Möglichkeit der Solidarität mit der bevorstehenden Revolution des Proletariats vertraut zu machen.
    Beide waren daher irgendwann gezwungen, sich auf die Zunge zu beißen und dem anderen zuzuhören. Beim Gerangel um Überlegenheit im Streben nach demselben Ergebnis nahm in den Gedanken der beiden aber ein anderes Gerangel Form an, und alle anderen im Saal verblassten daneben. Albert dachte: Wer ist diese junge Emma Goldman,diese toffte Schickse aus dem Brooklyner Schtetl im handgenähten Kleid, deren Jiddisch im komischen Kontrast zu einer Rhetorik steht, deren britische Eleganz sie aus den Lichtspielhäusern bezieht? Rose dachte: Wer ist dieser blonde, germanische, professoral attraktive Bursche mit Hosenträgern und Brille mit Goldfassung – und kann das wirklich, wie er in seiner Rede behauptet, ein Jude sein? Es war zugegebenermaßen eine Screwball-Komödie, aber keine linke Bazille unter den nach Hollywood ausgebüxten jüdischen Drehbuchschreibern hätte je gewagt, so etwas zu Papier zu bringen: ausgesandt, um die Young People von Gramercy zu bekehren, verloren sie das Ziel aus den Augen und wurden einander zum Ziel.
    Ihre Schwärmerei war vor allem das Zusammentreffen zweier Intellekte, die in denselben erhabenen Gewissheiten erstrahlten, zwei Willen, denen die gemeinsame Sache Mut gemacht hatte, und sie brachten noch das Ausmaß ihrer politischen Neigungen ans Licht (wobei »politisch« ein zu einschränkender Begriff war und nur unzureichend beschreiben konnte, was die Teilhabe an der größten Bewegung der Menschheitsgeschichte für ihr Verständnis dessen getan hatte, wofür das Leben eigentlich da war), quasselten sich die Hucke voll und konnten kaum still sein, um das Essen zu essen, das sie ihm in seiner Wohnung gekocht hatte und das nun auf dem Tisch kalt wurde, oder um den Wein zu trinken, den sie sich eingeschenkt hatten, in ihrer Berauschtheit von der gemeinsamen Sache aber kaum brauchten, als Albert erst ihr Kleid und dann seine Hose aufknöpfte. Die in der Öffentlichkeit begonnene Rangelei wurde hinter verschlossenen Türen fortgesetzt.
    Eine Weile ließ Roses und Alberts Präsenz bei allen Dringlichkeiten nach, die die einer Zelle mit zwei Mitgliedern überstiegen. Zwei Fronten verschmolzen zu einer. Volle Synthese auf nächtlicher Basis erreicht und verloren.
    Als bei Rose dann dreimal die Regel ausblieb, wurde geheiratet. Was sollte daran falsch sein? Sie waren zwei Juden. Zwei Menschen. Zwei Anhänger der Revolution. Für alle mit Ausnahme ihrer Familien
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher