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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Autoren: Jonathan Lethem
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Einzelkind immer deutlicher langweilte. Miriam saß inmitten der Folien, spielte leise mit ihrer Stoffpuppe, schmierte sie wahrscheinlich mit österreichischem Marzipan ein, und Gott allein wusste, wieviel oder wenig sie von dem verstand, was sie mit anhörte. Über den Ausschluss, der die Exilrichtung ihres Vaters umkehrte und ihn für immer aus New York und Amerika vertrieb.
    Was Rose anging, so konnte man ihre Stimme ausnahmsweise nicht vernehmen. Da sie wusste, dass sie an jenem Tag statt zu sprechen nurgeschrien hätte, sagte Rose kein einziges Wort, das Miriam, die vom Nebenzimmer aus zuhören konnte, beunruhigt hätte. Nichts, was sie darauf aufmerksam gemacht hätte, dass diese Sitzung außergewöhnlich war, dass die Parteimänner mehr als nur den nächsten irritierenden Auftrag für Albert und Rose verkündeten, die dem nächsten renitenten Betriebsratsvorsitzenden oder Gewerkschaftsfunktionär mit ihren Pamphleten und ihrem Geschwätz auf die Nerven gehen oder ohne jeden Sinn und Zweck die nächste Kulturveranstaltung infiltrieren sollten. Wenn überhaupt etwas die Siebenjährige hätte erschrecken können, dann das Fehlen der Stimme ihrer Mutter.
    Die Stimme, die jeden Raum und jede Situation durchdrang und nie schwieg, war ausnahmsweise zum Schweigen gebracht worden.
    Wenn überhaupt etwas Miriam hätte erschrecken können, dann dies: das Fehlen der Stimme ihrer Mutter, selbst als diese in der Tür stehenblieb, während sie den untragbaren Aschenbecher zwischen Küche und Salon hin- und hertrug, sich vor ihr aufbaute und das Mädchen mit zusammengepressten Lippen und vielleicht auch feuchten Augen (was sie geleugnet hätte) ansah, sich vorbeugte, der Tochter über den Kopf strich und die Formen des geliebten Schädels bis zu den Flaumhärchen im Nacken nachfuhr. Und, äußerst ungewöhnlich, kein Wort über das Minenfeld aus Folie verlor. Stattdessen den Aschenbecher mit der einen Hand wie einen Knüppel festhielt, sich spontan eine der wenigen übriggebliebenen Mozartkugeln schnappte, die Folie abpulte und die Kugel grimassierend mit einem Happen verschlang, dann von der Schwelle zurücktrat, noch immer kein Wort sagte und den Aschenbecher an seinen angestammten Platz zurückstellte, bevor der Aschekegel an der Zigarette eines Rauchers untragbar lang wurde.
    Wenn sich das Mädchen daran erinnert hätte – was unwahrscheinlich war –, wäre es das einzige Mal im Leben gewesen, dass ihrer Mutter ein Stück österreichische Schokolade über die Lippen kam.
    Von jenem Tag an lebten nur noch die beiden, Mutter und Tochter, in der Wohnung in Sunnyside Gardens.
    Unter Roses Erinnerungssternbildern war dies der Große Bär, der wirkliche Prozess. Etwas, worauf man ingrimmig stolz sein konnte: dass die Apparatschiks im New Yorker Kommunismus Albert zur Kenntnis genommen und entschieden hatten, dass er eine Maßregelung brauchte, korrigiert werden und aus dem Zustand des zügellosen Gatten und Vaters, des roten Säufers, der seine »Sitzungen« in McSorley’s Tavern abhielt – wo verdeckt ermittelnde Gäste aus der Sowjetunion zufällig mitgehört hatten! –, zum Dienst in Übersee gezwungen werden musste. Nach Deutschland zurückgeschickt wurde, wo er mit seinen höfischen Manieren punkten konnte und nicht auffiel wie ein bunter Hund. Ein jüdischer Dandy, dessen Englisch deutsche Spuren aufwies? Nicht direkt von unschätzbarem Wert für die Kommunistische Partei in den USA, die bei den Arbeitern auf einen grünen Zweig kommen wollte. Ein gebürtiger Deutscher mit tadellosem Englisch und hundertprozentigem Engagement, der in die Heimat zurückkehren wollte? Von maximaler Attraktivität für eine Gesellschaft, die gerade aus Lumpen und Ruinen auferstand.
    Und so wurde Albert ein ostdeutscher Bürger und Spion.
    Rose konnte den Prunk und die Drohung des Ausschusses, der Almas kleinen Salon aufgesucht hatte, um Tee zu trinken und die Zerstörung ihrer Ehe zu besiegeln, so richtig auskosten. In diese Erinnerung konnte sie sich weidlich einhüllen, diesen Prozess, der sie alles gekostet hatte, so dass sie sich in den Süßigkeitenladen ihrer Proletenfamilie zurückstehlen und zugeben musste, nein, man konnte einen Mann nicht halten, konnte zumindest keinen Nobelflüchtling halten. Seht ihr? Roses Ehe, minus Gott, war ein Reinfall. Und so war sie ins Fegefeuer ihres Lebens geworfen worden: Real’s Radish & Pickle, alleinerziehende Mutter und Queens ohne Manhattan, exiliert in die Vorstadt der Wütenden. Und
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