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Bis auf die Knochen

Bis auf die Knochen

Titel: Bis auf die Knochen
Autoren: Jefferson Bass
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    Das Maschendrahttor kreischte im trüben Licht der Morgend ä mmerung auf wie ein w ü tender Kater. Sobald sich mein Kiefer wieder entspannt hatte, machte ich mir im Geiste eine Notiz, beim n ä chsten Mal, wenn ich raus zur Body Farm fuhr, Schmierfett f ü r die Scharniere mitzubringen. Vergiss das nicht, schalt ich mich, genau wie bei den letzten zehn Malen, als ich es mir hinter die Ohren geschrieben und dann doch wieder vergessen hatte.
    Nicht, dass mit meinem Erinnerungsverm ö gen etwas nicht in Ordnung gewesen w ä re, das glaubte ich jedenfalls nicht. Aber wenn ich zur » Gerichtsmedizinischen Forschungseinrichtung « fuhr, wie die Body Farm als Teil der University of Tennessee offiziell hie ß , hatte ich einfach Interessanteres im Sinn als WD-40 oder irgendein anderes Schmiermittel. Etwa die Tatortrekonstruktion, die ich mit der Leiche in dem Pick-up vorhatte, den Miranda gerade r ü ckw ä rts auf das Tor der Einrichtung zusteuerte.
    Es erstaunte und frustrierte mich immer wieder aufs Neue, dass die Body Farm immer noch die einzige Forschungseinrichtung der Welt war, die sich dem systematischen Studium der Leichenzersetzung widmete. Als unvollkommenes menschliches Wesen mit Schw ä chen und Eitelkeiten war ich nat ü rlich ziemlich stolz auf meine einzigartige Sch ö pfung. Als forensischer Anthropologe jedoch – als » Knochendetektiv «, der sein Arbeitsgebiet auf die Suche nach Spuren in verwestem Fleisch ausgedehnt hatte – freute ich mich auf den Tag, an dem wir unsere Daten ü ber die Verwesungsgeschwindigkeit im feuchten, gem äß igten Klima von Tennessee mit Zahlen aus ä hnlichen Forschungseinrichtungen in der W ü ste von Palm Springs, der h ö her gelegenen W ü ste von Albuquerque, den Regenw ä ldern der Olympic-Halbinsel oder den alpinen H ä ngen der Montana Rockies vergleichen konnten. Doch jedes Mal, wenn ich dachte, ein Kollege in einem dieser Ö kosysteme stehe kurz davor, ein Pendant zur Body Farm zu gr ü nden, kniff die entsprechende Universit ä t, und so blieben wir einzigartig, einsam und wissenschaftlich isoliert.
    In den vergangenen f ü nfundzwanzig Jahren hatten meine Doktoranden und ich Hunderte von menschlichen Leichen an verschiedenen Schaupl ä tzen und unter verschiedenen Bedingungen in Szene gesetzt, um die unterschiedlichsten Aspekte von Verwesung zu erforschen. Flache Gr ä ber, tiefe Gr ä ber, feuchte Gr ä ber, mit Beton versiegelte Gr ä ber. Klimatisierte Geb ä ude, beheizte Geb ä ude, verglaste Veranden. Kofferr ä ume, R ü cksitze, Campinganh ä nger. Nackte Leichen, in Baumwolle gekleidete Leichen, Leichen in Polyesteranz ü gen, in Plastik eingewickelte Leichen. Doch auf die Idee, so etwas wie die grausige Szene nachzustellen, die Miranda und ich f ü r Jess Carter inszenieren w ü rden, war ich nie gekommen.
    Jess – Dr. Jessamine Carter – war Medical Examiner in Chattanooga. In den vergangenen sechs Monaten hatte sie ihre Arbeit auch im regionalen rechtsmedizinischen Institut in Knoxville ausge ü bt. Auf diesen doppelten Posten war sie » bef ö rdert « worden, falls man das so nennen konnte, weil unser eigener Medical Examiner, Dr. Garland Hamilton, m ä chtig Murks gebaut hatte. Bei etwas, was nur Hamilton selbst als Obduktion bezeichnen w ü rde, hatte er die Todesursache eines Mannes derma ß en falsch bestimmt – er hatte einen oberfl ä chlichen Schnitt als » t ö dliche Stichwunde « bezeichnet –, dass ein unschuldiger Zuschauer am Ende des Mordes angeklagt worden war. Als sein Fehler ans Licht kam, wurde Hamilton umgehend von seinem Posten beurlaubt; jetzt stand er kurz davor, auch seine Approbation zu verlieren, falls das Gremium seine Arbeit richtig machte. Bis qualifizierter Ersatz gefunden war, sprang Jess ein und nahm immer dann, wenn in unserer Ecke der W ä lder von Tennessee ein ungekl ä rter oder gewaltsamer Todesfall auftrat, die hundertsechzig Kilometer Fahrt ü ber die I-75 von Chattanooga nach Knoxville auf sich.
    Die Pendelei war f ü r Jess nicht so zeitaufw ä ndig, wie sie es f ü r mich gewesen w ä re. Mit ihrem Porsche Carrera – passenderweise feuerwehrrot – brachte sie die hundertsechzig Kilometer meist in rund f ü nfzig Minuten hinter sich. Der erste Streifenpolizist, der sie an den Stra ß enrand gewunken hatte, hatte kurz einen Blick auf ihre Dienstmarke werfen und sich einen forschen Vortrag ü ber die Dringlichkeit ihrer Mission anh ö ren d ü rfen, bevor sie ihn auf der Standspur der Interstate
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