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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Autoren: Mohsin Hamed
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Antwort zu entlocken. Ich will Ihnen sagen, was ich getan habe, auch wenn es nicht viel war, und ich fürchte, dass ich Ihren Erwartungen hier nicht gerecht werde. Aber erst wollen wir den Markt verlassen, denn die Läden werden schon heruntergelassen, und es lungern einige zwielichtige Gestalten herum. Wo wohnen Sie? Im Pearl Continental, sagen Sie? Ich begleite Sie hin. Nein, es ist nicht weit, und obwohl es dunkel ist und unser Weg um diese Zeit teilweise unbelebt, sollte uns nichts geschehen. Wie gesagt, Lahore ist, was die Kleinkriminalität angeht, recht sicher. Und außerdem haben wir beide zum Glück eine Statur und Erscheinung, die Raufbolde nachdenklich stimmt.

12
    Da Sie dauernd hinter sich blicken, Sir, werden Sie bemerkt haben, dass wir nicht die Einzigen sind, denen gerade der Sinn danach steht aufzubrechen. Ja, auch andere haben sich hinter uns zur Mall Road aufgemacht, auch der Kellner, der so ungewöhnlich aufmerksam war und an dem Sie sich anscheinend dennoch reiben. Es ist gar nichts Überraschendes dabei; die Arbeit des Abends ist nun getan. Ich bitte Sie, stattdessen den Blick auf diese hübschen Gebäude da zu richten, die sich in sehr unterschiedlichen Stadien des Verfalls zeigen. Sie gehen auf die britische Zeit zurück und sind geografisch wie architektonisch ein Bindeglied zwischen dem alten und dem heutigen Teil unserer Stadt. Sind sie nicht wunderbar! Ein Apotheker, ein Optiker, ein Händler feiner Saris, ein Herrenschneider. Schauen Sie, wie oft die Wörter Brüder und Söhne auf ihren Schildern auftauchen; es sind Familienbetriebe, die behutsam von Generation zu Generation weitergegeben worden sind. Nein, nicht im Falle dieser Waffenhandlung da, wie Sie zu Recht anmerken – aber Sie müssen doch zugeben, dass die meisten ganz bezaubernd und malerisch sind.
    Diese Plazas mit ihren kantigen Linien und gedrängten Fassaden sind da völlig anders; sie entstanden überwiegend in den siebziger und achtziger Jahren, als man noch keinen Sinn für die Erhaltung historischer Gebäude hatte; sie sprenkeln die Oberfläche dieser Gegend wie eine Hautreizung. Besonders unangenehm finde ich sie nachts, wenn sie unbeleuchtet und leer sind, umgrenzt von jenen schmalen Gassen, in die man gegen seinen Willen gezerrt werden könnte, um auf immer zu verschwinden! Ja, Sie haben vollkommen recht: Beeilen wir uns ein wenig; wir haben noch eine ordentliche Strecke vor uns.
    Kennen Sie Die Legende von Sleepy Hollow? Sie haben den Film gesehen, sagen Sie? Ich nicht, aber bestimmt entspricht er der Vorlage; die Prosaversion war jedenfalls ausgesprochen stark. Man lässt sich einfach von dem Entsetzen des armen Ichabod Crane anstecken, als er, allein auf seinem Pferd, den Kopflosen Reiter wahrnimmt. Ich muss zugeben, manchmal denke ich selbst an das Geräusch, dieses gespenstische Klipp-Klapp, wenn ich einen nächtlichen Spaziergang unternehme. Wie einem davon das Herz pocht! Aber offensichtlich teilen Sie mein Vergnügen an dieser Vorstellung nicht, ja, Sie wirken sogar richtiggehend ängstlich. Gestatten Sie mir also, das Thema zu wechseln ...
    Ich hatte Ihnen erzählt, Sir, wie ich Amerika verlassen habe. Die Wahrheit dessen, was ich erlebt habe, kompliziert diese scheinbar simple Aussage; ich war nach Pakistan zurückgekehrt, dennoch bewohnte ich weiterhin Ihr Land. Ich blieb mit Erica emotional verflochten, und ich brachte etwas von ihr mit nach Lahore – vielleicht wäre es richtiger zu sagen, dass ich etwas von mir an sie verloren hatte, was ich in meiner Geburtsstadt nicht mehr wiederfinden konnte. Wie auch immer, die Folge war, dass es an meiner Stimmung zerrte und zog; Wogen der Trauer überrollten mich, Kummer und Bedauern kamen mal durch einen äußeren Auslöser, mal durch einen inneren Kreislauf, der nahezu – mir fällt gerade kein besseres Wort ein – gezeitenartig war. Ich reagierte auf die Schwerkraft eines unsichtbaren Mondes in meinem Innern, und ich unternahm Reisen, die ich nicht erwartet hätte.
    Beispielsweise stand ich oft im Morgengrauen auf, ohne auch nur eine Sekunde geschlafen zu haben. Während der Stunden davor hatten Erica und ich dann einen ganzen Tag zusammen verlebt. Wir waren in meinem Schlafzimmer aufgewacht und hatten mit meinen Eltern gefrühstückt; wir hatten uns unter der Dusche liebkost und zur Arbeit angezogen; wir saßen auf unserem Motorroller und fuhren zum Campus, und ihr Helm stieß gegen meinen; wir trennten uns auf dem Parkplatz für die Lehrkräfte, und mich
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