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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Autoren: Mohsin Hamed
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nicht mehr zurückgekommen war. Man hatte ihre Kleider dann auf einem Felsvorsprung mit Blick über den Hudson gefunden, säuberlich zusammengelegt und übereinandergestapelt.
    »Wollen Sie mir damit sagen, dass sie sich umgebracht hat?«, fragte ich. »Man hat ihre Leiche nicht gefunden«, sagte die Schwester, »und sie hat auch keine Nachricht hinterlassen. Im Grunde gilt sie als vermisst. Aber sie hatte sich von allen verabschiedet.« Ich fragte sie, ob sie mir die Stelle zeigen könne, von der aus Erica möglicherweise gesprungen sei, worauf sie mich über das Gelände führte, bis wir dort standen. Es war ein schöner Ort, um Selbstmord zu begehen, um dort zwischen den schneebestäubten Koniferen hinauszulaufen, sich von dem Granit abzustoßen und durch die Luft zu segeln, während man zum anderen Ufer des mächtigen Flusses blickte, wo aus dem Kamin eines Häuschens Rauch aufstieg, um dann in den eisigen Strom darunter zu stürzen. Aber ich konnte mir Ericas blassen, nackten Körper auf dieser Flugbahn nicht vorstellen.
    Und so fuhr ich in die Stadt zurück, direkt zu ihrer Wohnung. Ericas Mutter trug kein Make-up; mir fiel auf, dass ihre Augenbrauen so fein waren, dass sie fast nicht existierten. Ich erklärte ihr, ich käme gerade von dem Heim, fragte, ob sie von Erica gehört habe. Ihre Mutter starrte mich an, als hätte ich sie grundlos geschlagen. »Nein«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefasst hatte, mit müder Stimme, »leider nicht.« »Sie sollen wissen«, sagte ich, »dass ich alles tun werde, um Sie zu unterstützen.« »Danke«, sagte sie und bat mich herein. Sie erzählte mir, dass die Notdienste weiterhin nach Erica Ausschau hielten und in den Lokalzeitungen regelmäßig Anzeigen geschaltet seien, darüber hinaus könne man wenig tun. Wir versuchten, über Belanglosigkeiten zu reden, doch das erwies sich als schwierig. Als sie fragte, wie es mir gehe, sagte ich, ich sei gerade gefeuert worden, und als ich ihr dieselbe Frage stellte, brachte sie nur ein mattes Lächeln zustande, deshalb saßen wir zumeist schweigend da. Doch bevor ich ging, tat sie zwei Dinge, vermutlich aus Freundlichkeit: Zum einen sagte sie, Erica habe erwähnt, dass sie mich mit meinem neuen Bart ziemlich flott gefunden habe, und dann gab sie mir noch eine Kopie von Ericas Manuskript. »Vielleicht«, sagte ihre Mutter, »möchten Sie es ja gern lesen.«
    Über eine Woche lang tat ich es nicht; es lag unberührt auf meinem Fernseher. Während dieser Zeit wartete ich auf ein Zeichen von Erica – eine Mail, einen Anruf, dass mein Summer Laut gab –, doch es kam keines mehr. Ich streifte durch die Stadt und besuchte noch einmal die Orte, zu denen sie mich mitgenommen hatte. Ob ich dachte, ich würde sie dort vielleicht sehen oder noch etwas von uns, weiß ich jetzt nicht mehr. Einige dieser Orte – wie die Galerie in Chelsea, die wir an unserem ersten Abend besucht hatten – konnte ich nicht mehr finden, sie waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Andere, wie die Stelle im Central Park, wo wir gepicknickt hatten, waren leicht ausfindig zu machen, schienen aber verändert. Vielleicht lag das am Wechsel der Jahreszeiten, vielleicht wat es aber auch das Wesen der Stadt, unbeständig zu sein.
    Ich erinnerte mich an Erica im September, es war noch der Beginn unserer Beziehung, unmittelbar nach den Angriffen auf das World Trade Center. Obwohl traditionellerweise mit dem Ende des Sommers und dem bevorstehenden Beginn des Herbstes assoziiert, war dieser Monat für mich schon immer einer des Aufbruchs gewesen, eine Art Frühling – wahrscheinlich, weil er den Beginn des akademischen Jahrs einläutet. Im September war ich in mein Leben in New York eingetaucht, voller Optimismus der Dinge harrend, die da kamen. Eines Abends ging ich mit Erica über den Union Square, wo wir einen Leuchtkäfer sahen. »Schau nur!«, sagte sie erstaunt, »er versucht, mit den Gebäuden zu wetteifern.« Und tatsächlich: Ein winziges grünliches Glimmen, das von ganz nah zu sehen war, aber schon aus geringer Entfernung von der Leuchtkraft der Stadt erstickt wurde. Wir schauten ihm nach, wie er über die 14th Street Richtung Süden verschwand. Erica stand vor mir, mit dem Rücken an meiner Brust, und ich legte die Arme um sie, die Hände auf ihrem Bauch. Es war eine vertraute Geste – wie die eines werdenden Vaters bei seiner schwangeren Frau –, und sie lehnte sich an mich. Noch jetzt erinnere mich, wie sich beim Atmen ihre Muskeln
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