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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Autoren: Mohsin Hamed
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des Mitgefühls zum Ziel hatte, aber ich war mir sicher, dass der betreffende Junge fälschlich mit dieser Sache in Verbindung gebracht worden war. Wie ich da sicher sein könne, da ich doch keine Insiderkenntnisse gehabt hätte? Ich muss schon sagen, Sir, jetzt haben Sie einen entschieden unfreundlichen und vorwurfsvollen Ton angeschlagen. Was wollen Sie mir denn damit unterstellen? Ich kann Ihnen versichern, dass ich ein Anhänger der Gewaltlosigkeit bin. Blutvergießen ist mir ein Gräuel, es sei denn zur Selbstverteidigung. Und wie großzügig ich Selbstverteidigung definiere, fragen Sie? Überhaupt nicht großzügig! Ich bin kein Verbündeter von Killern, ich bin einfach ein Universitätsdozent, nicht mehr und nicht weniger.
    Ich sehe an Ihrer Miene, dass Sie mir nicht glauben. Egal, ich bin mir der Wahrheit meiner Worte sicher. Wie auch immer, es war unmöglich, den Jungen über die Sache zu befragen, denn er war verschwunden – zweifellos verschleppt in eine geheime Haftanstalt, ein gesetzloses Niemandsland zwischen Ihrem Land und meinem. Er und ich waren nicht sonderlich gut miteinander bekannt, wie ich wiederholt ausgesagt habe, doch ich erinnerte mich an sein schüchternes Lächeln und seine Kompetenz bei Kapitalflussrechnungen, und das Rätsel, das sein Schicksal umgab, erfüllte mich zunehmend mit Wut. Als die internationalen Nachrichtensender auf unseren Campus kamen, sagte ich ihnen unter anderem, dass kein Land den Bewohnern anderer Länder so schnell den Tod bringt und so viele Menschen in der Ferne in Angst versetzt wie Amerika. Vielleicht war ich bei diesem Thema energischer, als ich es beabsichtigt hatte.
    Später fiel mir ein, dass ich zusätzlich zu der Bekundung meiner Abscheu möglicherweise auch versucht hatte, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken; ich hatte auf meine Weise das Glimmen eines Leuchtkäfers ausgesandt, das hell genug war, die Grenzen von Kontinenten und Zivilisationen zu überwinden. Wenn Erica das sah – was, nüchtern betrachtet, so gut wie ausgeschlossen war, wie ich wusste –, hätte sie mich vielleicht erkannt und mir daraufhin geschrieben. Als nichts geschah, stellte sich ein unterschwelliges Verlustgefühl ein. Doch mein kurzes Interview schien Widerhall zu finden: Es wurde tagelang immer wieder gezeigt, und noch heute sieht man gelegentlich einmal einen Ausschnitt davon in Montagen zum Krieg gegen den Terror. Seine Wirkung war so stark, dass meine Genossen meinten, Amerika könnte auf meine zugegebenermaßen unbeherrschten Bemerkungen reagieren, indem sie jemanden schickten, um mich einzuschüchtern oder Schlimmeres.
    Seither fühle ich mich ganz wie ein Kurtz, der auf seinen Marlowe wartet. Ich habe versucht, normal zu leben, als hätte sich nichts geändert, aber mich quält eine Paranoia, das immer wiederkehrende Gefühl, beobachtet zu werden. Ich habe sogar schon versucht, meine Tagesabläufe zu variieren – die Zeit, zu der ich zur Arbeit gehe, beispielsweise, und die Straßen, die ich nehme –, aber ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass das alles keinen Zweck hat. Ich muss mich meinem Schicksal stellen, wenn es da ist, und bis dahin darf ich nicht in Panik geraten.
    Vor allem muss ich das vermeiden, was Sie gerade tun, nämlich ständig über die Schulter zu blicken. Ich habe den Eindruck, dass Sie meinem Geplapper gar nicht mehr zuhören; vielleicht sind Sie überzeugt, dass ich ein unverbesserlicher Lügner bin, vielleicht glauben Sie ja auch, dass wir verfolgt werden. Wirklich, Sir, es täte Ihnen gut, sich zu entspannen. Ja, diese Männer sind nun ziemlich nahe, und, ja, der eine da – na, so ein Zufall; es ist unser Kellner, und er hat mir zugenickt – schaut ziemlich grimmig drein. Aber sie wollen Ihnen bestimmt nichts Böses. Es ist eigentlich überflüssig zu sagen, aber glauben Sie bitte nicht, dass wir Pakistani alle potenzielle Terroristen sind, genauso wenig wie wir annehmen sollten, dass alle Amerikaner heimliche Attentäter sind.
    Ah, gleich sind wir vor Ihrem Hotel angekommen. Hier werden sich unsere Wege trennen. Vielleicht möchte sich auch unser Kellner verabschieden, denn er kommt sehr schnell auf uns zu. Ja, er bedeutet mir, Sie festzuhalten. Ich weiß, Sie finden einige meiner Ansichten beleidigend; ich hoffe, Sie werden sich meinem Versuch, Ihnen die Hand zu schütteln, nicht widersetzen. Aber warum greifen Sie denn in Ihr Jackett, Sir? Sehe ich da Metall schimmern? Nun, da Sie und ich durch eine gewisse Vertrautheit verbunden sind,
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