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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
Autoren: Mohsin Hamed
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bewegten. Ein Taxi raste vorbei, und wir verloren den Leuchtkäfer aus den Augen. »Glaubst du, er hat es geschafft?«, fragte sie mich. »Keine Ahnung«, sagte ich, »aber ich hoffe es.«
    Solche Erinnerungen beschäftigten mich in den Tagen nach ihrem Verschwinden von morgens bis abends und drangen wohl auch in meine Träume; sie waren in jener Zeit meine einzige Form des Kontakts mit ihr. Aber endlich las ich auch das Manuskript, das ihre Mutter mir gegeben hatte. Ich muss gestehen, ich hatte Angst davor – als könnte es das letzte Mal sein, dass ich Ericas Stimme hörte –, und mir war bang, was die Stimme wohl sagen würde. Doch ihr Roman hatte nichts gequält Autobiografisches. Es war einfach eine Abenteuergeschichte über ein Mädchen auf einer Insel, das lernt irgendwie zurechtzukommen. Die Geschichte war voller Hoffnung, und obwohl sie zumeist recht sparsam war, verweilte sie doch immer wieder auch bei kleinen Details: der Struktur der Schale einer herabgefallenen Frucht beispielsweise oder den hin und her zuckenden Fühlern von Krebsen in einem Bach.
    In den Rhythmen oder Klängen dessen, was sie geschrieben hatte, konnte ich Erica nicht wiederfinden; es erschien wie ein Fehler, gab mir keine Hinweise. Es war so zielgerichtet, so entschieden, genau das zu sein, was es war, dass ich verblüfft war. Aber auch tief berührt. Als ich das Manuskript niederlegte, tat ich es ohne jede Überzeugung, dass Erica lebte oder tot war. Doch ich hatte begriffen, dass sie sich entschieden hatte, nicht Teil meiner Geschichte zu sein; ihre eigene hatte sich als zu zwingend erwiesen, und sie folgte ihr – zu jenem Zeitpunkt und auf ihre Weise – bis zu ihrem Ende, gelangte durch Orte, die unerreichbar für mich waren. Ich erkannte, dass mir keine andere Wahl blieb, als mit meinen Vorbereitungen zur Abreise fortzufahren.
    Ich würde gern sagen können, dass meine letzten Tage in New York in einem Zustand abgeklärter Ruhe vergingen; nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich war ein wirrer, rührseliger Wahnsinniger, der Wutanfälle bekam und in Depressionen verfiel. Manchmal lag ich im Bett, dachte im Kreis, stellte mir immerzu dieselben Fragen, warum und wohin Erica gegangen war; manchmal lief ich durch die Straßen, mein Bart eine stolze Provokation, suchte Ärger mit jedem, der so verwegen war, mich gegen ihn aufzubringen. Verletzungen gab es überall; die Rhetorik, die zu dem Zeitpunkt der Geschichte aus Ihrem Land zu hören war – nicht nur von der Regierung, sondern auch von den Medien und vermeintlich kritischen Journalisten –, lieferte prompte und beständige Nahrung für meinen Zorn.
    Damals schien es mir – und es scheint mir noch heute so zu sein –, dass Amerika nur eine Pose einnahm. Als Gesellschaft waren Sie und Ihresgleichen nicht bereit, über den geteilten Schmerz nachzudenken, der sie mit denjenigen verband, die sie angriffen hatten. Sie zogen sich in die Mythen ihres Andersseins zurück, in die Anmaßung ihrer Überlegenheit. Und diese Überzeugungen agierten sie auf der Weltbühne aus, so dass der ganze Planet von den Rückwirkungen ihrer Wutanfälle erschüttert wurde, nicht zuletzt auch meine Familie, der nun Tausende Meilen entfernt ein Krieg drohte. Ein solches Amerika musste nicht nur im Interesse der übrigen Menschheit gestoppt werden, sondern auch in seinem eigenen.
    Also beschloss ich, es zu tun, so gut ich konnte. Aber erst musste ich ausreisen. An einem frischen, klaren Nachmittag, einem Nachmittag, der mich an meine Fahrt zu dem Heim und den Blick von dem Felsvorsprung über dem Hudson erinnerte, fuhr ich zum JFK. Ich stellte mir vor, wie Erica sich auszog und dann, nachdem sie sich ihrer Vergangenheit entledigt hatte, durch den Wald ging, bis sie auf eine freundliche Frau traf, die sie aufnahm und ihr zu essen gab. Ich stellte mir vor, wie kalt ihr wohl bei diesem Gang war. Und so ließ ich mein Jackett als eine Art Gabe, als meine letzte Geste vor meiner Rückkehr nach Pakistan, am Straßenrand liegen, als Wärmewunsch für Erica – nicht so, wie man Blumen für die Toten hinterlässt, sondern vielmehr, wie man mit Rupien über die Lebenden streicht. Später sah ich durch die Fenster des Terminals, dass ich einen Sicherheitsalarm ausgelöst hatte, und ich schüttelte verzweifelt den Kopf.
    Was genau ich getan habe, um Amerika zu stoppen, fragen Sie mich? Haben Sie wirklich keine Ahnung, Sir? Sie zögern – keine Angst, ich bin nicht so grob, Ihnen mit Gewalt eine
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