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Der Fuenf-Minuten-Philosoph

Der Fuenf-Minuten-Philosoph

Titel: Der Fuenf-Minuten-Philosoph
Autoren: Gerald Benedict
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unsere Sünden; denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind.« (Lk 11, 4) Paulus ermahnt die Kolosser: »Ertragt euch gegenseitig und vergebt einander, wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat.« (Kol 3, 13) Jesus antwortet Petrus auf die Frage, wie oft er jemandem vergeben müsse, der sich gegen ihn versündigt hat: »Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.« (Mt 18, 22) Die Heilige Schrift hält uns an, anderen zu vergeben, weil auch uns vergeben wurde. Und diese Vergebung kennt weder Grenzen, noch ist sie an Bedingungen geknüpft. Für Juden ist Vergebung eine der 13 göttlichen Eigenschaften. In der Amida, dem Achtzehnbittengebet oder Hauptgebet im jüdischen Gottesdienst, wird Gott als »Ewiger – Gnädiger« gepriesen, »der so oft vergibt«. Zelebriert wird dies am Vorabend zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag, an dem Juden gewöhnlich diejenigen, denen sie Unrecht getan haben, um Vergebung bitten. Nachdruck verleihen sie ihrer Bitte mit Angeboten zur Wiedergutmachung. Im Islam ist Allah der »Gnädige, der Erbarmer«, der »Vergeber der Sünden«. Vergebung von ihm und anderen erfordert Reue. Für Buddhisten ist Vergebung eine Sache des »Loslassens«, um bei dem, was vergeben werden muss, nicht zu verharren. »Er hat mich verletzt, hat mich geschlagen, hat mich zu Boden geworfen und hat mich ausgeraubt – in denen, die solche Gedanken aufgeben, versiegt der Hass«, heißt es im ›Dhammapada‹ , einer Sammlung der Aussprüche Buddhas.
    Vergebung ist ein seelischer Heilungsprozess. Ohne Vergebung schwärt eine innere Wunde weiter. Aber sie zu gewähren und eine Entschuldigung anzunehmen, fällt keineswegs leicht. Vergeben heißt, jemandem zusichern, dass man ihm die fragliche Angelegenheit nicht länger nachträgt und er sein Schuldgefühl ablegen kann. Wenn jemand, den wir kennen,uns angegriffen, bestohlen oder mutwillig unser Eigentum beschädigt hat, bedeutet ihm zu vergeben, dass wir ihm nichts mehr nachtragen. Aber Vergebung setzt eine Beziehung voraus, die auf Gegenseitigkeit beruht: Einem gänzlich Unbekannten, dem man nie näher kommt als in einem Gerichtssaal, kann man nicht vergeben. Kurz gesagt, ist Vergebung ein Prozess, der Verbitterung lindert, verletzte Gefühle heilt und – hoffentlich bei beiden Parteien – den inneren Frieden wiederherstellt. Ob derjenige, dem vergeben wird, diese Vergebung auch annehmen und seine Schuldgefühle ablegen kann, hängt davon ab, inwieweit die Bitte um Vergebung aufrichtig ist. Um Vergebung annehmen zu können, müssen wir mit unserer Schuld sicher auch selbst fertigwerden.
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    »Vergib stets deinen Feinden – nichts verdrießt sie so sehr.«
    Oscar Wilde (1854–1900)
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    Möglicherweise verschärft derjenige, der nicht vergeben kann, der einen dauerhaften Groll hegt, das Empfinden für seine Verletzung: Nichts nagt an uns schlimmer als Hass und Zorn. Aber auch, wo Vergebung möglich ist, braucht sie ihre Zeit. In der Familie und unter Freunden schafft erst die Vergebung, auch wenn sie schwierig ist, die Voraussetzung für Versöhnung. Oft heißt es, wir müssten vergeben und vergessen. Der jiddischsprachige amerikanische Schriftsteller Schalom Asch (1880–1957) äußerte dazu: »Nicht die Kraft der Erinnerung, sondern ihr Gegenteil, die Kraft des Vergessens, ist eine notwendige Bedingung unserer Existenz.« Vergessen kann freilich noch schwieriger als vergeben und vielleicht sogar unmöglich sein. Vergeben ist nicht abhängig von einem Vergessen: Es kann Erinnerungen heilen, ohne sie auszulöschen. Ob wir wirklich vergeben haben, bemisst sich daran, wie sehr der Schmerz der Erinnerung nachlässt.
M üssen wir uns selbst vergeben?
    Es kann schwieriger sein, sich selbst als anderen zu vergeben. Aber solange wir dies nicht schaffen, können wir vielleicht überhaupt nicht vergeben. Es heißt, wir könnten aufrichtig erst dann lieben, wenn wir uns selbst lieben gelernt hätten. Aber ob dies eine Frage der Eigenliebe oder der Selbstvergebung ist und wie genau man zu dieser Einstellung gelangt, ist eher rätselhaft. Manche meinen, uns selbst zu vergeben, sei Teil der neuen Selbsthilfe-Kultur, eine Art Do-it-yourself-Psychologie, die »cool« und politisch korrekt ist. Es könnte auch zu einem Mittel werden, um sich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen. Aber darum geht es nicht. Sich selbst zu vergeben, berührt die sensibelsten Aspekte unserer Selbstwahrnehmung und hängt von der Stärke unseres Mitgefühls und unseren Sehnsüchten
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