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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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der Braeslers.«
    Ich räusperte mich. »Ich bin ihr Adoptivsohn«, sagte ich.
    »Ich war immer der Meinung, sie hätten keine Kinder.«
    »Sie haben ja auch keine. Ich meine: keine eigenen.« Als Böhm nichts darauf erwiderte, setzte ich hinzu: »Meine wirklichen Eltern waren enge Freunde der Braeslers. Als ich sieben war, kamen meine Mutter, mein Vater und mein Bruder bei einem Brand ums Leben. Sonst habe ich keine Verwandten. Georges und Nelly haben mich adoptiert.«
    »Nelly hat mir von Ihren intellektuellen Fähigkeiten berichtet.«
    »Ich fürchte, da hat sie ein wenig übertrieben.« Ich öffnete meine Aktentasche. »Ich habe Ihnen meinen Lebenslauf mitgebracht.«
    Ich legte das Blatt auf den Tisch, aber Böhm schob es mit der flachen Hand beiseite. Einer massiven, starken Hand. Einer Hand, die ein Gelenk zu brechen vermag, einfach so, mit zwei Fingern.
    »Ich setze vollkommenes Vertrauen in Nellys Urteil«, erwiderte er. »Hat sie Ihnen angedeutet, worin Ihre >Mission< besteht? Hat sie Ihnen gesagt, daß es bei der Sache um etwas recht Spezielles geht?«
    »Nein, nichts dergleichen.«
    Böhm musterte mich stumm. Er schien auf die geringste meiner Reaktionen zu lauern.
    »In meinem Alter«, sagte er endlich, »führt Untätigkeit zu gewissen Schrulligkeiten. Bei mir ist es so, daß ich eine Schwäche für bestimmte Wesen hege, seit Jahrzehnten schon, und diese Schwäche hat sich zu einer regelrechten Marotte ausgewachsen.«
    »Was für Wesen?« fragte ich.
    »Es sind keine Menschen.«
    Böhm verstummte wieder, offensichtlich liebte er es, die Sache spannend zu machen. Nach seiner dramatischen Pause murmelte er: »Es handelt sich um Störche.«
    »Um Störche!«
    »Sehen Sie, ich bin ein Freund der Natur. Seit vierzig Jahren interessiere ich mich für Vögel. Als ich jung war, habe ich sämtliche Bücher über Ornithologie verschlungen und Stunden im Wald und auf den Feldern verbracht, das Fernglas in der Hand, um alle Arten von Vögeln zu beobachten. Einen besonderen Platz in meinem Herzen nimmt der Weißstorch ein. Ich liebe ihn vor allem deshalb, weil er ein phantastischer Zugvogel ist, ganz unglaublich - er schafft es, jährlich mehr als zwanzigtausend Kilometer zurückzulegen. Jedes Jahr gegen Ende des Sommers, wenn die Störche nach Afrika aufbrachen, war ich im Geist bei ihnen. Übrigens habe ich mir später einen Beruf ausgesucht, bei dem ich viel auf Reisen war und den Störchen folgen konnte. Ich bin Bauingenieur, Monsieur Antioche, mittlerweile pensioniert. Mein ganzes Leben lang habe ich mich bemüht, auf den großen Baustellen im Mittleren Osten, in Afrika, immer entlang der Wanderroute der Vögel, Beschäftigung zu finden. Heute rühre ich mich nicht mehr von der Stelle, aber ich studiere immer noch den Vogelzug. Ich habe mehrere Bücher zu dem Thema veröffentlicht.«
    »Ich weiß nichts über Störche. Was erwarten Sie denn von mir?«
    »Dazu komme ich gleich.« Böhm nahm einen großen Schluck Tee. »Seitdem ich pensioniert bin und hier in Montreux lebe, geht es den Störchen immer prächtig. Jedes Frühjahr kommen meine Paare zurück und suchen immer wieder ihre alten Nester auf. Das ist ein unveränderliches Gesetz. Aber dieses Jahr sind die Störche aus dem Osten nicht zurückgekehrt.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Von den siebenhundert wandernden Paaren, die in Deutschland und Polen gezählt wurden, sind im März und im April nicht einmal fünfzig am Himmel aufgetaucht. Ich habe mehrere Wochen gewartet. Ich bin sogar selbst hingefahren. Aber es war zwecklos. Die Vögel kamen nicht wieder.«
    Der Ornithologe erschien mir auf einmal älter und sehr einsam. »Haben Sie eine Erklärung dafür?« fragte ich.
    »Vielleicht steckt eine Umweltkatastrophe dahinter. Oder die Auswirkungen eines neuen Insektenvertilgungsmittels. Aber das sind alles nur Vermutungen. Und ich will Gewißheiten.«
    »Wie sollte ich Ihnen dabei helfen?«
    »Im August werden sich wie jedes Jahr Dutzende von Jungstörchen auf die Wanderung machen. Ich will, daß Sie ihnen folgen. Tag für Tag. Ich will, daß Sie ihrer Flugroute exakt nachreisen. Ich will, daß Sie alle Schwierigkeiten beobachten, auf die sie unterwegs stoßen. Daß Sie mit den Leuten sprechen - mit der Polizei, mit ortsansässigen Vogelkundlern. Ich will, daß Sie herausfinden, weshalb meine Störche verschwunden sind.«
    Seine Absichten verblüfften mich.
    »Sind Sie selbst denn nicht tausendmal besser qualifiziert als ich, um...«
    »Ich habe mir
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