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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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damals ein in jeder Beziehung korrekter junger Mann. Mit Zweiunddreißig hatte ich meinen Doktor in Geschichte gemacht: das Ergebnis einer achtjährigen, mühseligen Arbeit über den >Kulturbegriff bei Oswald Spenglerc. Nach der Fertigstellung dieses schweren, tausendseitigen Schinkens, der in praktischer Hinsicht absolut überflüssig und in moralischer Hinsicht eher unersprießlich war, hatte ich nur noch eins im Sinn: sämtliche Studien zu vergessen. Ich hatte genug von Büchern, Museen, experimentellen und Kunstfilmen, genug von diesem Dasein aus zweiter Hand, den Schimären der Kunst, den heiligen Kühen der Geisteswissenschaft. Ich wollte zur Tat schreiten, mit beiden Händen ins Leben greifen.
    Ich kannte junge Ärzte, die sich für humanitäre Hilfe einsetzten, weil sie, wie sie es formulierten, >ein Jahr zu verlieren< hatten. Angehende Anwälte, die Indien durchquerten und sich eine Kostprobe von der Mystik gönnten, bevor sie sich ihrer Karriere zuwandten. Ich hatte keinerlei Aussicht auf einen Beruf und nicht die geringste Neigung zur Exotik oder zum Elend anderer. Also waren meine Adoptiveltern mir ein weiteres Mal zu Hilfe gekommen. >Ein weiteres Mal< deshalb, weil das alte Diplomatenehepaar seit dem Unfall vor fünfundzwanzig Jahren, der meinen Bruder und meine Eltern das Leben gekostet hatte, mir immer alles geboten hatte, was ich brauchte: in den allerersten Jahren die Versorgung durch eine Kinderfrau, dann eine ansehnliche Pension, die mir erlaubte, eine wirkliche Gleichgültigkeit gegenüber den Wechselfällen des Geldes zu entwickeln.
    Georges und Nelly Braesler hatten mir also vorgeschlagen, mich mit Max Böhm in Verbindung zu setzen, einem ihrer Schweizer Freunde, der angeblich jemanden wie mich suchte. »Jemanden wie mich?« hatte ich gefragt, während ich mir Böhms Adresse notierte. Man hatte mir geantwortet, es gehe vorerst um einen wahrscheinlich mehrmonatigen Auftrag. Später werde man sich dann darum kümmern, eine ordentliche Stelle für mich zu finden.
    Die Ereignisse hatten daraufhin einen unerwarteten Verlauf genommen. Und meine erste Begegnung mit Max Böhm, die zwiespältig und voller Rätsel war, ist mir in allen Einzelheiten im Gedächtnis geblieben.
    An diesem Tag, dem 17. Mai 1991, traf ich gegen vier Uhr nachmittags in der Rue du Lac Nummer 3 ein, nachdem ich lange Zeit in den engen Gassen der Oberstadt von Montreux umhergeirrt war. Am Ende eines von mittelalterlichen Laternen gesäumten Platzes entdeckte ich schließlich das Chalet; auf der massiven Holztür stand der Name >Max Böhme. Ich läutete. Gut eine Minute verging, bis mir ein etwa sechzigjähriger, stämmiger Mann mit breitem Grinsen öffnete. »Sie sind Louis Antioche?« fragte er. Ich nickte und betrat das Haus von Herrn Böhm.
    Innen sah das Chalet dem Stadtviertel ähnlich: enge, überladene Räume, dazwischen Nischen und Winkel, Regale, Vorhänge, hinter denen sich sichtlich kein Fenster verbarg, und der Fußboden war nicht eben, sondern unterteilt durch zahlreiche Stufen und Podeste. Böhm schob einen Vorhang beiseite und forderte mich auf, ihm zu folgen, tief hinab in den Keller. Wir betraten einen Raum mit weißgestrichenen Wänden, in dem lediglich ein Eichenholzschreibtisch stand; darauf thronte eine Schreibmaschine, umgeben von zahlreichen Dokumenten. Über dem Tisch hingen eine Landkarte von Europa und von Afrika und etliche kolorierte Stiche von Vögeln. Ich setzte mich. Böhm bot mir Tee an, den ich gern annahm (ich trinke ausschließlich Tee). Mit wenigen raschen Gesten beförderte Böhm eine Thermosflasche, Tassen, Zucker und mehrere Zitronen zutage. Während er beschäftigt war, betrachtete ich ihn genauer.
    Er war klein, untersetzt, und seine bürstenförmig geschnittenen Haare waren vollkommen weiß. In seinem runden Gesicht sträubte sich ein gestutzter Schnurrbart, auch er völlig weiß. Seine Beleibtheit ließ ihn grimmig und schwerfällig wirken, und doch ging eine erstaunliche Jovialität von ihm aus: vor allem seine Augen, die tausend Fältchen umrahmten, schienen ständig zu lächeln.
    Böhm servierte behutsam den Tee, mit dicken Händen und plumpen Fingern. Ein Mann aus den Wäldern, dachte ich. Außerdem hatte er etwas unbestimmt Militärisches an sich - was vielleicht auf eine kriegerische Vergangenheit oder anders geartete brutale Aktivitäten schließen ließ. Schließlich setzte er sich, faltete die Hände und begann in sanftem Ton: »Sie sind also aus der Familie meiner alten Freunde,
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