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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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müssen.«
    Dann ließen sie mich im Krankenhausflur stehen und gingen davon, er mit seiner sanften Miene und sie mit ihren klappernden Absätzen - die freilich nicht laut genug klapperten, um den leise gesprochenen Satz der Ärztin zu übertönen: »Wir haben da ein Problem...«

 
4
     
    Draußen warf der beginnende Morgen metallische Schatten und tauchte die schlafenden Straßen in ein graues Licht. Ich durchquerte Montreux, ohne mich um Ampeln zu kümmern, und fuhr geradewegs zu Böhms Haus. Ich weiß nicht, warum, aber die angekündigten >Erkundigungen< über den Ornithologen hatten mir einen Schrecken eingejagt, und ich hatte das dringende Bedürfnis, sämtliche Dokumente, in denen mein Name erwähnt war, zu vernichten und der APCE meinen Vorschuß anonym zurückzuzahlen, ohne die Polizei in die Sache hineinzuziehen. Wer keine Spuren hinterläßt, erregt auch kein Aufsehen.
    Ich parkte meinen Wagen unauffällig, hundert Meter vom Chalet entfernt. Zunächst vergewisserte ich mich, daß die Haustür nicht abgesperrt war, dann kehrte ich zum Auto zurück und holte aus meinem Rucksack einen Werbekalender in Form einer weichen Plastikscheibe, die ich zwischen Tür und Rahmen steckte und unter den Schnapper des Schlosses zu schieben versuchte, was mir nach wiederholten Anläufen schließlich gelang: unter dem Druck meiner Schulter öffnete sich die Tür ohne einen Laut, und ich betrat das Haus des verstorbenen Max Böhm. Im Zwielicht des frühen Morgens wirkte das Chalet noch beengter, noch beklemmender als zuvor: Es war bereits das Haus eines Toten.
    Ich ging hinunter in den Keller zum Büro. Die Akte >Louis Antioche< an mich zu bringen fiel mir nicht schwer: Böhm hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie beiseite zu räumen. Darin fand ich die Quittung der Banküberweisung, die Rechnungen der Flugtickets, die Verträge mit den Leihwagenfirmen. Außerdem fand ich die Notizen, die Böhm sich anhand der Auskünfte von Nelly Braesler über mich gemacht hatte:
    Louis Antioche. Zweiunddreißig. Mit zehn Jahren von den Braeslers adoptiert. Intelligent, geistreich, sensibel. Aber ein frustrierter Müßiggänger. Mit Vorsicht zu behandeln. Hat von dem Unfall Traumata zurückbehalten. Erinnerungslücken.
    Anscheinend war ich für die Braeslers auch nach so vielen Jahren immer noch ein kritischer Fall und leicht gestört. Ich drehte das Blatt um, aber mehr stand nicht darauf. Das Drama meiner Kindheit hatte Nelly offenbar für sich behalten. Um so besser. Ich nahm die Akte an mich und setzte meine Suche fort.
    In einer Schreibtischlade stieß ich auf die Akte >Störche<, die, ähnlich wie die Unterlagen, die Max mir am ersten Tag ausgehändigt hatte, die Namen von Kontaktpersonen und eine Fülle von Informationen enthielt. Auch diese Akte nahm ich an mich.
    Ich hätte verschwinden sollen, doch eine unbestimmte Neugier trieb mich dazu, weiterzusuchen, mehr oder weniger aufs Geratewohl. In einem heruntergekommenen mannshohen Aktenschrank aus Eisen entdeckte ich Tausende von Karteikarten mit Daten über Vögel, eng zusammengeschoben, verschiedenfarbig und je nach Farbe in Päckchen geordnet. Diesen Farbcode hatte Böhm mir erklärt: jede Farbe stand für einen bestimmten Vorfall oder eine bestimmte Information - rot bedeutete: Weibchen, blau: Männchen, grün: Zugvogel, rosa hieß: Unfall mit Hochspannungsleitung, gelb: Krankheit, schwarz: Tod, und so weiter. So genügte ihm ein Blick auf die Farben, um die entsprechenden Karten zu dem Thema, mit dem er sich jeweils befaßte, leicht aufzufinden.
    Mir kam eine Idee: Ich sah mir die Liste der verschwundenen Störche an und zog ein paar der dazugehörigen Karteikarten aus der Lade. Aber Böhm benutzte eine unverständliche Kürzelsprache, und so vermochte ich lediglich festzustellen, daß die verschwundenen Vögel allesamt erwachsene Tiere waren, älter als sieben Jahre. Ich steckte sämtliche Karteikarten ein - was ich da tat, war bereits Diebstahl. Aber immer noch trieb mich ein unbezwingbarer Impuls, und ich durchsuchte systematisch den gesamten Schreibtisch. >Böhm ist ein Schulfall<, hatte Dr. Warel gesagt. Wo hatte die Operation stattgefunden? Und wer hatte sie durchgeführt? Ich fand keinerlei Hinweis.
    Aus reiner Verzweiflung nahm ich mir den kleinen Verschlag direkt neben dem Arbeitszimmer vor, in dem Max Böhm seine Ringe lötete und seine Ornithologenausrüstung verwahrte. Auf einem Regal über der Arbeitsplatte stapelten sich Ferngläser, fotografische Filter und eine
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