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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Avenue Bokassa 66, Bangui, Zentralafrikanische Republik. Mein Herz begann zu rasen. Zentralafrika war also Böhms letzte afrikanische Adresse gewesen. Das Land, das durch den Wahnsinn seines kurzlebigen Tyrannen, des Kaisers Bokassa, traurige Berühmtheit erlangt hatte. Dieser wüste Dschungel, glühendheiß und feucht, mitten im Herzen Afrikas - der auch in den Trümmern meiner eigenen Vergangenheit verschüttet war.
    Ich kurbelte die Scheibe herunter und ließ die frische Luft herein, dann nahm ich mir den Umschlag wieder vor. Ich fand weitere Fotos der zerbrechlichen Gattin, aber auch noch andere Abzüge: sie zeigten Max Böhm und einen etwa dreizehnjährigen Jungen, der dem Vogelkundler verblüffend ähnlich sah. Dieselbe stämmige Gestalt, die blonden Haare zu einer Bürste geschnitten, mit braunen Augen und muskulösem Hals wie ein Tier. Doch in seinen Augen lagen eine Verträumtheit, eine Sorglosigkeit, die zu Böhms Steifheit und Härte nicht paßten. Die Fotos stammten offensichtlich aus derselben Epoche, den siebziger Jahren. Damals war die Familie vollzählig: Vater, Mutter und Sohn. Aber wieso versteckte Böhm diese banalen Bilder eigens in einem hohlen Podest? Und wo war dieser Sohn heute?
    Der zweite Umschlag enthielt lediglich eine Thorax-Röntgenaufnahme, undatiert, ohne Namen und ohne Kommentar. Die einzige Gewißheit: auf dem opaken Bild war ein Herz zu sehen. Und in der Mitte des Herzens ein winziger heller Fleck, scharf konturiert, von dem ich nicht hätte sagen können, ob es sich um einen Fehler in der Aufnahme oder um ein Blutklümpchen handelte. Ich dachte an Max Böhms Transplantat. Dieses Bild stammte sicherlich von einem seiner beiden Herzen. Dem ersten oder dem zweiten? Ich verwahrte das Dokument sorgfältig.
    Schließlich öffnete ich den letzten Umschlag - und erstarrte. Vor mir hatte ich den gräßlichsten Anblick, den man sich vorstellen kann. Es waren Schwarzweißfotografien - Bilder von einer Art menschlichem Schlachthaus. Kinderleichen hingen an Metzgerhaken, Marionetten aus Fleisch, mit blutigen Löchern anstelle der Arme oder des Geschlechts; Gesichter mit aufgerissenen Lippen und leeren Augenhöhlen; Arme, Beine, einzelne Gliedmaßen, gestapelt auf einer Fleischbank; blutverkrustete Köpfe, aufgereiht auf langen Tischen, starrten aus toten Augen. Und alle Leichen waren ausnahmslos Schwarze.
    Dieser unsägliche Ort war nicht einfach ein Totenhaus. Die Wände waren weiß gekachelt wie in einer Klinik oder einer Leichenhalle, und es lagen funkelnde chirurgische Instrumente herum: das war ein makabres Labor, eine abscheuliche Folterkammer mit wissenschaftlicher Verbrämung. Die Höhle eines Monsters, das sich im verborgenen grauenhaften Praktiken hingab. Ich stieg aus dem Wagen, die Kehle war mir zugeschnürt vor Abscheu und Ekel. So vergingen viele Minuten, während ich in der frischen Morgenluft stand. Von Zeit zu Zeit warf ich noch einmal einen Blick auf die Bilder und versuchte mir klarzumachen, daß sie wirklich waren, mich an den Anblick zu gewöhnen, um sie besser fassen zu können. Es war unmöglich. Die brutale Schärfe der Abzüge, die Bildkörnung verliehen dieser Armee von Leichen eine schwindelerregende Realität. Wer konnte derartige Entsetzlichkeiten begangen haben - und warum?
    Ich stieg wieder in den Wagen, verschloß die drei Umschläge und schwor mir, sie nicht so bald wieder zu öffnen. Ich ließ den Motor an und fuhr hinunter nach Montreux, mit Tränen in den Augen.

5
    Ich fuhr in Richtung Innenstadt und bog dann in die Avenue ab, die am See entlangführt. In der Tiefgarage des hellen, feudalen Hotel de la Terrasse stellte ich den Wagen ab. Die Sonne goß bereits eine Flut von Licht über das träge Wasser des Genfer Sees, und die Landschaft ringsum flammte in goldenem Glanz auf. Ich setzte mich in den Hotelgarten gegenüber dem See und den dunstverhangenen Bergen, die den Ausblick einrahmten.
    Nach einigen Minuten erschien der Kellner, und ich bestellte chinesischen Tee, gut gekühlt. Ich versuchte nachzudenken. Böhms Tod. Das Rätsel um sein Herz. Die morgendliche Durchsuchung seines Hauses und die grauenerregenden Entdeckungen, die ich dabei gemacht hatte. Das war ziemlich viel für einen simplen Studenten auf der Suche nach Störchen.
    »Na - letzter Spaziergang vor der Abreise?«
    Ich drehte mich um. Hinter mir stand Inspektor Dumaz, frisch rasiert, in einem leichten Jackett aus braunem Stoff und einer hellen Leinenhose.
    »Wie haben Sie mich
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