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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sprichwörtliche Ruhe der Schweiz.« Dumaz klopfte sich abermals auf die Jackettasche. »Wir werden gemeinsam Ihre Aussage unterschreiben. Und sie vergessen.«
    »Und Sie, was haben Sie davon?«
    »Sehr viel. Auf jeden Fall mehr als gestohlene Reiseschecks oder entlaufene Pudel. Der Alltag im August in Montreux ist nicht gerade erhebend, Monsieur Antioche, glauben Sie mir. Was Sie mir heute nacht von Ihrem Studium erzählt haben, fand ich nicht sehr glaubwürdig. Man verbringt nicht zehn Jahre seines Lebens mit einem Fach, das einem keinen Spaß macht. Ich habe Sie freilich auch angelogen: an sich begeistert meine Arbeit mich sehr. Aber meine Erwartungen erfüllen sich nicht. Es vergeht ein Tag nach dem anderen, und die Langeweile erstickt mich. Ich will an einem handfesten Fall arbeiten. Böhms Schicksal liefert uns einen hervorragenden Anlaß zur Ermittlung, bei der wir im Team besser
    vorankommen. Kann ein Rätsel wie dieses Ihr
    Intellektuellenhirn nicht reizen? Denken Sie darüber nach.«
    »Ich fliege nach Frankreich zurück und rufe Sie morgen an. Meine Aussage kann ruhig einen oder zwei Tage warten, nicht wahr?«
    Der Inspektor nickte lächelnd. Er begleitete mich zu meinem Wagen und streckte mir die Hand zum Abschied hin. Ich
    übersah seine Geste und stieg ins Kabrio. Dumaz lächelte wieder, dann hielt er die halboffene Tür fest. Nach kurzem Schweigen fragte er: »Darf ich Ihnen eine indiskrete Frage stellen?«
    Ich nickte knapp.
    »Was ist mit Ihren Händen passiert?«
    Die Frage entwaffnete mich. Ich betrachtete meine Finger, mißgestaltet seit so vielen Jahren, auf denen die Haut sich zu unzähligen Wülsten und Narben verzweigt hat, dann zuckte ich die Achseln.
    »Ein Unfall in meiner Kindheit. Ich lebte bei einer Kinderfrau, die Färberin war. Ein Bottich voller Säure ist umgekippt und mir über die Hände geflossen. Mehr weiß ich nicht darüber. Der Schock und der Schmerz haben jede Erinnerung ausgelöscht.«
    Dumaz betrachtete meine Hände. Mein Gebrechen war ihm sicherlich schon in der Nacht aufgefallen, und seine Neugier über diese uralten Brandwunden war jetzt hoffentlich befriedigt. Mit einer schroffen Geste schlug ich die Wagentür zu. Dumaz sah mich an, dann fragte er in sanftem Ton: »Diese Narben haben nichts mit dem Unfall Ihrer Eltern zu tun?«
    »Woher wissen Sie, daß meine Eltern einen Unfall hatten?«
    »Böhms Unterlagen sind äußerst umfassend.«
    Ich startete und fuhr die Uferstraße entlang in Richtung Lausanne, ohne noch einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Ein paar Kilometer weiter hatte ich die Aufdringlichkeit des Inspektors bereits vergessen.
    Kurz darauf, während ich an einem sonnenbeschienenen Feld entlangfuhr, sah ich aus dem Augenwinkel eine Gruppe schwarzweiß gefleckter Gestalten. Ich stellte den Wagen ab und ging vorsichtig auf sie zu. Ich spähte durchs Fernglas. Die Störche waren da. Gelassen, den Schnabel im Boden, suchten sie sich ihr Frühstück. In der goldleuchtenden Helligkeit schimmerte ihr weiches Gefieder wie Samt, glänzend, dicht und seidig. Ich habe für Tiere ansonsten nicht viel übrig, aber dieser Vogel, der wie eine indignierte Herzogin dreinblicken kann, ist wirklich etwas Besonderes.
    Ich sah Böhm vor mir, in den Feldern von Weissembach. Er schien glücklich, mir seine kleine Welt vorzuführen. Stumm pirschte sich seine breite Gestalt durch die Äcker bis zu den Gehegen voran, und er bewegte sich geschmeidig und leicht trotz seiner Korpulenz. Mit seinem kurzärmeligen Hemd, seiner Leinenhose und dem Fernglas um den Hals ähnelte er einem pensionierten Oberst, der ein imaginäres Manöver durchführte. Während er das Gehege betrat, sprach Böhm mit einer sanften Stimme voller Zärtlichkeit auf die Störche ein. Die Vögel waren zuerst mit flüchtigen, argwöhnischen Blicken zurückgewichen.
    Böhm ging weiter bis zum Nest, das sich etwa einen Meter über der Erde befand und aus einem Kranz aus Zweigen und Erde bestand, mit einem Durchmesser von mehr als einem Meter und flacher, sauberer und ordentlicher Oberfläche. Die Störchin hatte ihren Platz widerwillig verlassen, und er zeigte mir die Jungen, die in der Mitte lagen. »Sechs Junge, stellen Sie sich das vor!« Die winzigen Vogelkinder hatten ein gräuliches Gefieder mit leichtem Grünstich. Sie rissen die Augen auf und drängten sich aneinander, und ich fühlte mich wie ein Eindringling, der den Frieden eines trauten Heims stört. Das klare Abendlicht verlieh dem Anblick eine
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