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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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gewaltige Menge von Ringen aller Art aus verschiedenen Materialien. Außerdem entdeckte ich chirurgische Instrumente, Injektionsspritzen, Bandagen, Schienen, steriles Verbandszeug. Offenbar hatte Max Böhm sich zuzeiten auch als Hobbyveterinär betätigt. Diese Welt, die der Alte sich geschaffen hatte, in der sich alles um unverständliche Leidenschaften, ja Besessenheiten drehte, erschien mir immer einsamer, immer isolierter, je mehr ich davon zu sehen bekam. Schließlich verstaute ich alles wieder an seinem Platz und kehrte ins Erdgeschoß zurück.
    Das große Wohnzimmer, das Eßzimmer und die Küche streifte ich nur flüchtig; es gab hier nichts von Bedeutung - schweizerische Nippsachen, irgendwelche Papiere, alte Zeitungen. Ich stieg zu den Schlafzimmern hinauf, von denen es drei gab. Das Zimmer, in dem ich beim ersten Mal geschlafen hatte, war so nichtssagend wie damals: ein schmales Bett, plumpe, schäbige Möbelstücke. Böhms Schlafzimmer roch nach Moder und Trostlosigkeit, die Farben waren verblichen, die Möbel ohne ersichtlichen Grund eng zusammengerückt. Ich durchsuchte alles: Schrank, Sekretär, Kommoden. Jedes Möbelstück war so gut wie leer. Ich schaute unters Bett, unter die Teppiche, unter lose Tapetenstücke in den Ecken. Ohne Ergebnis. Nur in einem Schrank fand ich einen Schuhkarton voller alter Fotos von einer Frau. Ich sah mir ein paar Bilder an: eine farblose Frau mit unbestimmten Gesichtszügen und kränklicher Gestalt vor tropischen Landschaften. Wahrscheinlich Frau Böhm. Auf den jüngeren Fotos - die in Farbe waren und den für die siebziger Jahre typischen Stich hatten - schien sie um die Vierzig. Ich betrat das letzte Zimmer und fand dort dieselbe altmodische Atmosphäre vor, aber sonst nichts. Schließlich stieg ich die enge Treppe wieder hinunter, während ich mir den Staub abklopfte, der an meinen Kleidern haftete.
    Durch die Fenster fiel das erste Sonnenlicht herein. Ein goldener Strahl strich über die Möbelflächen und die Kanten der zahlreichen Podeste, die - weshalb nur? - in allen Ecken des Wohnzimmers aufragten. Auf einer dieser Stufen ließ ich mich nieder. Es fehlte einiges in diesem Haus, dachte ich: Max Böhms medizinisches Dossier - ein Transplantationspatient mußte doch sicherlich Medikamente einnehmen und also Rezepte besitzen, außerdem Szintigramme, Röntgenaufnahmen, Elektrokardiogramme und ähnliches; ferner vermißte ich die üblichen Andenken eines Menschen, der lange Zeit im Ausland gelebt hat: afrikanisches Kunstgewerbe, orientalische Teppiche, Jagdtrophäen ..., genauso wie die Spuren einer beruflichen Vergangenheit - ich hatte nicht einmal Pensionsunterlagen gefunden, auch keine Bankauszüge oder Steuerbescheide. Hätte Böhm einen radikalen Schlußstrich unter seine Vergangenheit ziehen wollen, er hätte es nicht anders angefangen. Aber es mußte hier irgendwo ein Versteck geben.
    Ich sah auf die Uhr: Viertel nach sieben. Falls eine gerichtliche Untersuchung stattfinden sollte, würde die Polizei sicher bald auftauchen, und sei es nur, um das Haus zu versiegeln. Widerwillig stand ich auf und ging zur Tür. Ich öffnete sie - und im selben Augenblick fielen mir die Stufen ein: waren die Podeste im Wohnzimmer nicht ideale Verstecke? Ich machte kehrt und klopfte die Seiten ab. Die Stufen waren hohl. Ich rannte hinunter in den Kellerverschlag, griff mir ein paar Werkzeuge und lief wieder hinauf. Innerhalb von zwanzig Minuten hatte ich alle sieben Podeste in Böhms Wohnzimmer geöffnet, ohne allzu große Schäden anzurichten. Vor mir lagen drei große Versandumschläge, versiegelt, staubig, ohne Beschriftung.
    Ich kehrte zu meinem Wagen zurück und fuhr zu den Hügeln oberhalb von Montreux auf der Suche nach einem Ort, an dem ich ungestört war. Zehn Kilometer weiter parkte ich in einer einsamen Straßenbiegung in einem Wäldchen, das noch feucht vom Morgentau war. Meine Hände zitterten vor Anspannung, als ich den ersten Umschlag öffnete.
    Er enthielt die medizinische Akte von Irene Böhm, geborene Fogel in Genf 1942. Verstorben im August 1977 im Krankenhaus Bellevue in Lausanne an den Folgen eines metastasierten Tumors. Die Akte enthielt lediglich ein paar Röntgenaufnahmen, Diagramme, amtliche Verschreibungen und zum Schluß den Totenschein, dem ein an Max Böhm adressiertes Telegramm und ein Beileidsschreiben von Dr. Lierbaum, dem behandelnden Arzt seiner Frau, beilagen. Ich sah mir den Briefumschlag an, auf dem Max Böhms Anschrift im Jahr 1977 stand:
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