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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Schließlich war ich nie etwas anderes gewesen als ein müßiger Student - aus welchem Grund hätte ich mich über Nacht in einen verwegenen Abenteurer verwandeln sollen?
    Trotzdem wartete ich noch. Hier im Krankenhaus von Montreux. Auf die Ankunft des Inspektors von der Bundespolizei und auf das Ergebnis der Autopsie. Denn eine Autopsie fand statt. Der diensthabende Arzt hatte sich sofort an die Arbeit gemacht, nachdem die Leiche von der Polizei freigegeben worden war - Max Böhm besaß anscheinend keine Familienangehörigen mehr. Was war dem alten Max zugestoßen? Ein Herzinfarkt? Hatten die Störche ihn angegriffen? Die Frage verdiente durchaus eine Antwort, und das war wohl auch der Grund, weshalb man die Leiche des Ornithologen jetzt auseinandernahm.
    »Sind Sie Louis Antioche?«
    Ich war derart in Gedanken versunken, daß ich den Mann nicht bemerkt hatte, der auf einmal neben mir saß. Die Stimme war so sanft wie seine Physiognomie. Ein langes Gesicht mit höflicher Miene unter einem zerzausten Haarschopf. Der Mann sah mich mit abwesenden, schlaftrüben Augen an. Er war unrasiert, und man merkte ihm an, daß dies gegen seine Gewohnheit war. Er trug eine Hose aus leichtem Stoff, gut geschnitten, und ein lavendelblaues Lacoste-Hemd. Wir waren praktisch identisch gekleidet, mit der einzigen Ausnahme, daß mein Hemd schwarz war und anstelle des Krokodils einen Totenkopf hatte. Ich antwortete: »Ja. Sind Sie von der Polizei?«
    Er nickte und faltete seine Hände wie zum Gebet: »Inspektor Dumaz. Habe heute nacht Bereitschaftsdienst. Scheußliche Sache. Sind Sie das, der ihn gefunden hat?«
    »Ja.«
    »Wie war er?«
    »Tot.«
    Dumaz zuckte die Achseln und holte sein Notizbuch hervor.
    »Also«, sagte er geduldig. »Unter welchen Umständen haben Sie ihn entdeckt?«
    Ich berichtete ihm von meiner Suche am Vortag. Dumaz machte sich bedächtig Notizen. Dann fragte er: »Sind Sie Franzose?«
    »Ja. Ich wohne in Paris.«
    Der Inspektor notierte sich sorgfältig meine Adresse.
    »Kennen Sie Max Böhm schon lange?«
    »Nein.«
    »In welcher Beziehung standen Sie zu ihm?«
    Ich hielt es für angebracht zu lügen: »Ich bin Vogelbeobachter, Hobbyornithologe. Wir hatten die Absicht, gemeinsam ein Lehrseminar über verschiedene Vogelarten zu veranstalten.«
    »Was für welche?«
    »Vor allem Weißstörche.«
    »Was tun Sie beruflich?«
    »Nichts. Ich bin vor kurzem mit dem Studium fertig geworden.«
    »Was haben Sie studiert? Ornithologie?«
    »Nein. Geschichte und Philosophie.«
    »Und wie alt sind Sie?«
    »Zweiunddreißig.«
    Der Inspektor stieß einen leisen Pfiff aus: »Da haben Sie aber Glück gehabt, daß Sie so lang Ihrer Leidenschaft frönen konnten. Ich bin genauso alt wie Sie und seit dreizehn Jahren bei der Polizei.«
    »Geschichte ist nicht meine Leidenschaft«, antwortete ich abweisend.
    Dumaz fixierte die Wand gegenüber. Dasselbe abwesende Lächeln wie zuvor glitt über seine Lippen. »Meine Arbeit ist auch nicht gerade meine Leidenschaft, das kann ich Ihnen versichern«, sagte er. Dann sah er mich wieder an: »Seit wann, glauben Sie, ist Max Böhm bereits tot?«
    »Seit vorgestern abend. Am Abend des Siebzehnten hat der Wächter ihn zum Storchennest hinaufsteigen sehen, aber er sah ihn nicht wieder herunterkommen.«
    »Woran ist er Ihrer Meinung nach gestorben?«
    »Was weiß ich? Vielleicht an einem Herzinfarkt. Jedenfalls hatten die Störche schon angefangen, ihn ... aufzufressen.«
    »Ja, ich weiß, ich habe die Leiche vor der Autopsie gesehen. Haben Sie noch etwas zu sagen?«
    »Nein.«
    »Dann kommen Sie bitte ins Kommissariat in der Innenstadt, um Ihre Aussage zu unterzeichnen. Am späten Vormittag sind wir soweit. Das ist die Adresse.« Dumaz seufzte. »Dieser Tod wird ziemliches Aufsehen erregen. Böhm war einigermaßen berühmt. Sie wissen ja sicher, daß er es war, der in der Schweiz die Störche wieder angesiedelt hat. Auf derlei legen wir hierzulande viel Wert.«
    Er verstummte, dann fuhr er mit einem kleinen Lachen fort: »Ein komisches Hemd haben Sie da an . Durchaus den Umständen angemessen, finden Sie nicht?«
    Auf diese Bemerkung hatte ich von Anfang an gewartet. Aber in dem Moment kam eine kleine, kräftige, dunkelhaarige Frau auf uns zu und enthob mich einer Antwort. Ihr weißer Kittel war blutverschmiert, ihr Gesicht verwüstet von Falten und geplatzten Äderchen. Eine Frau, die einiges erlebt hat und sich nichts vormachen läßt. Sie trug hohe Absätze, die bei jedem Schritt klapperten -
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