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Der Fluch

Der Fluch

Titel: Der Fluch
Autoren: Krystyna Kuhn
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Mrs Jones gegenüber und weicht ihrem Blick nicht aus.
    Die Karten sind neu gemischt. Jetzt ist es David, den sie im Visier hat. Ihr Rücken ist leicht nach vorne gebeugt und ich sehe die angespannten Muskeln durch den dünnen weißen Stoff ihrer Bluse.
    Ich bin jetzt diejenige, die etwas unternehmen muss. Ich kann mich kaum bewegen, mein Körper ist starr vor Kälte, aber ich schaffe es, ein Bein über das Geländer zu schwingen, dann das zweite. Ich zwinge mich, meine Hände von der Metallstrebe zu lösen. Fast falle ich, so steif sind meine Muskeln, aber die Wut in mir löst alle Anspannung. Sie kocht in mir hoch, so heftig, dass es mir den Atem verschlägt. Ich habe noch nie einen Menschen angegriffen, noch nie Gewalt ausgeübt.
    Aber als Mrs Jones nun tonlos sagt: »Es spielt keine Rolle mehr«, und anschließend die Waffe hebt, gebe ich ihr einen festen Stoß in den Rücken. Es fühlt sich gut an. Und ich spüre Erleichterung, fast Freude, als sie das Gleichgewicht verliert und nach vorne fällt. Es gibt nichts, an dem sie sich festhalten kann. Nichts, wonach sie greifen kann. Keinen Halt. Die Waffe scheint in Zeitlupe durch die Luft zu fliegen und langsam zu Boden zu schweben.
    Und ebenso langsam begreife ich, dass der Wahnsinn ein Ende hat.
    TEIL IV

Eine Woche später

30. Rose
    Ein Gewitter, das am Nachmittag über das Tal hinwegzog, hat die Luft gereinigt. Obwohl ich die ganze Zeit über dachte, die Welt geht unter. Aber Donner und Blitz können dem Tal nichts anhaben. Die Wolken haben sich verzogen und wider Erwarten ist es ein schöner Abend geworden, mild und frühlingshaft. Die Sonne geht gerade unter und der Himmel zeigt diese unvergleichliche Abendröte, die den nächsten schönen Tag vorhersagt. Bevor ich den Weg zum Club Voltaire einschlage, gehe ich hinunter zum Lake Mirror. Ich muss über vieles nachdenken. Darüber, was passiert ist, darüber, was die Zukunft bringen wird.
    Aus diesen Gedanken reißt mich das Klingeln meines Handys. Mit einem Blick erkenne ich die Nummer meiner Mutter.
    In der letzten Woche haben wir fast täglich telefoniert. Das Unausgesprochene, das die letzten beiden Jahre unsere Gespräche überschattet hat, ist verschwunden. Ich weiß jetzt, sie hat nur für mich gekämpft.
    Und sie hatte Erfolg.
    J. F. sitzt wie seine Mutter in Untersuchungshaft. Die Chancen stehen gut, dass er verurteilt wird. Und seit der Fall von einer anderen Kanzlei betreut wird, können Mom und ich unbefangen darüber sprechen.
    Ich drücke auf die grüne Taste. »Hi, Mom.«
    »Wie geht es dir?«
    Eine Frage, die an Bedeutung gewonnen hat, seit ich in der Gefahr geschwebt habe, mein Leben zu verlieren.
    »Gut. Was gibt es Neues?«
    »Die Zeitungen berichten immer noch über die ganze Sache. Sie stellen Jaydens Mutter als gemeingefährliche Psychopathin dar. Krankhaft eifersüchtig, übertriebene Mutterliebe. Außerdem hat der Richter ihren Antrag, auf Kaution freigelassen zu werden, abgelehnt, seit sich immer mehr Mädchen melden, die Jayden der sexuellen Belästigung beschuldigen.«
    Natürlich könnte man denken, ich sei darüber erleichtert. Aber ich habe Muriel nicht vergessen. Und ich kann auch nicht aufhören zu denken, dass sie im Grunde für mich gestorben ist.
    Ich weiß inzwischen, dass Muriel das Gleiche durchgemacht hat wie ich. Jayden hat sie erst mit K.-o.-Tropfen betäubt, dann vergewaltigt. Auch sie ist nicht gleich zur Polizei gegangen, hat niemandem davon erzählt. Bis sie von meiner Aussage gehört hat.
    Ich schließe für einen Moment die Augen. »Hätten Muriel und ich von Anfang an die Wahrheit gesagt, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.«
    »Muriel hatte fürchterliche Angst«, erwidert Mom. »Die Vergewaltigung hat sie völlig verändert. Sie war nicht mehr sie selbst, sagen ihre Eltern und Freunde. Es hat sie einfach zerstört.« Sie schweigt einen Moment. »Izzy hat fast jedes Mädchen an der Schule nach Jayden Ferris gefragt und die Antworten ließen keinen Zweifel daran, was für einen Ruf er hat. Irgendjemand hat ihr dann Muriels Namen genannt.«
    »Das hast du mir nie gesagt.«
    »Was hätte es auch für einen Sinn gemacht, dir zu früh Hoffnungen zu machen?«
    »Hat Izzy auch mit Muriel geredet?«
    »Ja, aber es war schwer, ihr Vertrauen zu gewinnen. Erst als Izzy ihr von dir erzählt hat, war sie zu einem Gespräch bereit.«
    Eine kurze Pause entsteht, bis ich die Frage stelle, die mich am meisten beschäftigt.
    »Ich verstehe nur eines nicht. Warum ist sie
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