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Der Fluch

Der Fluch

Titel: Der Fluch
Autoren: Krystyna Kuhn
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über das Geländer gebeugt stehen. Nichts hatte sich draußen verändert. Kaum ein Lichtstrahl drang durch die massive Wolkenfläche.
    Sein Blick glitt an der Fassade entlang. Die Empfangshalle und die darüberliegende Mensa lagen im Dunkeln, natürlich, es war ja noch früh. Umso mehr irritierte ihn, was er dann sah. Ein schwacher Lichtkegel zeichnete sich auf dem Platz vor dem Haupteingang ab. Sein Blick suchte die Fassade ab. Nichts, alles war dunkel. Die unteren Stockwerke, bis auf … Sein Herz schlug schon schneller, bevor sein Verstand begriff, woher das Licht kam.
    Dort oben lagen die Ateliers.
    Unter den Kunststudenten befand sich so mancher Freak, Typen, die die Nacht zum Tag machten, aber jetzt war eher die Stunde der Frühaufsteher. Er hätte sich nicht gewundert, wenn Katie am See ihre Runden drehte oder aufbrach, um im Morgengrauen die Felsen hochzuklettern. Doch die Kunststudenten, die er kannte, schliefen um diese Zeit.
    Er dachte an Rose und ihr Bild, an dem sie seit Wochen wie besessen arbeitete, und im selben Augenblick nahm er die Silhouette wahr, die sich vor der Glasfassade abzeichnete.
    Und David wusste, dass er es nicht noch einmal ertragen würde, zu spät zu kommen.

29. Rose
    Wie gesagt, du hast die Wahl.«
    Mrs Jones lächelt zufrieden und das Ausmaß ihres Wahnsinns schockiert mich. Und wie geschickt sie darin gewesen ist, uns allen etwas vorzumachen. Aber ich habe keine Chance mehr, darüber nachzudenken, denn ich fühle den kalten Lauf der Waffe an meiner Stirn.
    Mir bleiben Minuten, Sekunden, die ich länger leben kann, wenn ich am Geländer hochklettere. Es ist keine Entscheidung, die ich treffe. Es ist nur ein Hinauszögern dessen, was passieren wird. Und ich kann nicht glauben, dass ich es tatsächlich tue. Ich schwinge mein rechtes Bein über das Geländer.
    Meine Hände krallen sich in das feuchte, glitschige Metall und ich weiß, ich kann jeden Moment abrutschen. Ich wünsche mir, ich wäre Katie, die es schafft, eine glatte Felsenwand hochzuklettern, scheinbar ohne Halt.
    Kalte Luft schlägt an meine Beine, aber es geht noch immer kein Wind. Mein Oberkörper liegt auf der obersten Stange, die gegen meine Rippen drückt. Ich kann kaum atmen.
    Sekundenlang hänge ich unsicher in der Luft. Dann ziehe ich das andere Bein nach und lasse mich an dem Gitter nach unten rutschen, bis ich mit den Füßen auf dem Blech Halt finde. Vorsichtig taste ich mich nach vorne und schiebe sie unter dem Geländer durch.
    Ich stehe nun direkt Mrs Jones gegenüber. Warum habe ich früher nicht den kalten Ausdruck in ihren Augen bemerkt? Ohne jegliche Emotion hält sie mir die Waffe ins Gesicht. Sie ist in einem Zustand, in dem sie tatsächlich abdrücken würde, und ich habe keine Ahnung, wie ich es verhindern kann.
    Und dennoch – wenn ich sterben muss, dann will ich den Zeitpunkt bestimmen, nicht sie. Das ist vielleicht die einzige Freiheit, die ich noch habe.
    Nicht daran denken, was passieren wird, wenn ich loslasse oder meine Hände abrutschen.
    Doch ich kann nicht anders, als nach unten zu blicken.
    Zuerst sehe ich nur ein verwaschenes Bild, bis sich langsam Konturen bilden. Direkt unter mir hebt sich die helle Fläche des gepflasterten Weges gegen den dunkelgrauen Hintergrund des Wolkenmassivs ab. Je länger ich hinunterstarre, desto mehr scheint sie sich zu bewegen.
    Ich stelle es mir vor, wie ich durch die Luft fliege, wie mein Körper dort unten auf der Erde aufschlägt, mein Kopf zerspringt, während ich was denke? Das war’s? Das war dein Leben?
    Alles verschwimmt vor meinen Augen. Meine Beine werden schwächer, können nicht länger das Gewicht meines Körpers tragen.
    »Wie gesagt, du hast die Wahl. Springen … oder …«
    Ich beobachte panisch, wie sich ihr Finger am Abzug krümmt. Es ist schwer, so einen Menschen zu verstehen, und dennoch versuche ich es. Es erscheint mir die einzige Chance, ihr zu entkommen.
    »Was ist das für eine Wahl, wenn am Ende der Tod steht? Und warum sollte ich überhaupt wählen? Wenn Sie mich erschießen wollen, warum tun Sie es nicht einfach?«
    »Eben weil es zu einfach wäre. Weil ich will, dass du springst. Du sollst begreifen, dass du die Strafe verdient hast. Du sollst den Abgrund spüren.«
    »Sie kommen damit nicht durch.«
    »Im Gegenteil. Es wird aussehen wie Selbstmord. Und keiner wird sich darüber wundern. Jeder weiß, wie sensibel du bist.«
    So wie sie es sagt, scheint es tatsächlich Sinn zu machen. Aber es ist nicht die Wahrheit. Die
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