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Der Fluch

Der Fluch

Titel: Der Fluch
Autoren: Krystyna Kuhn
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Wahrheit ist komplizierter. Deswegen kann ich die Welt nicht in Schwarz und Weiß unterteilen. Ich versuche immer, den Zusammenhang zu sehen. Viele denken, das sei eine Schwäche, aber in diesem Moment gibt genau dieser Gedanke mir Kraft.
    »Du bist schließlich durch die Hölle gegangen«, sagt sie. »Bist vergewaltigt worden. Hast dein Kind verloren. Sally. Und jetzt auch noch Muriel. Kein Wunder, wenn du das alles nicht verkraftet hast.«
    Ihre Stimme ist hoch und melodisch und ich höre einen winzigen Anflug von Freude; es geht um mehr als nur darum, ihren Sohn zu retten. Es geht um Rache. Um blinden Hass.
    Und noch bevor ich richtig überlege, frage ich schon: »Woher kommt dieser Hass?«
    »Das ist kein Hass, sondern Liebe.« Auf ihren Lippen erscheint ein Lächeln. »Ich würde alles für Jayden tun. Er und ich … wir sind eine Einheit … seit er auf der Welt ist. Seit sein Vater uns verlassen hat.«
    »Und wenn er Sie auch eines Tages verlässt?«
    Ein rasches nervöses Blinzeln. Die Frage trifft einen wunden Punkt. Sie versetzt ihr einen Schlag. Macht ihr Angst. Angst, die erneut in Wut umschlägt.
    »Eines Tages wird er begreifen, dass ich alles getan habe, um ihn zu schützen.«
    »Schützen – wovor?« Meine Stimme ist ein einziges verschrecktes Krächzen.
    Fast klingt sie verwundert, als sie nun antwortet: »Vor Mädchen wie dir und Muriel.«
    Mir sträuben sich die Nackenhaare, als sie abdriftet in das System der Gedanken, das sie für sich allein konstruiert hat. Und ich begreife plötzlich, wie recht Professor Brandon hat. Jeder Mensch erzählt sich eine andere Geschichte über die Welt. In ihren Vorstellungen ist alles logisch, was sie sagt. Und nichts, was ich dem entgegne, wird sie vom Gegenteil überzeugen. Das macht sie so gefährlich.
    Meine Füße rutschen auf dem von der Nacht feuchten Metall ab. Um mich festzuhalten, brauche ich mehr Kraft, als ich besitze.
    Aber Adrenalin ist eine geheime Wunderwaffe.
    Meine Hände kleben so fest an den Metallstreben, dass ich davon überzeugt bin, sie können sich gar nicht davon lösen. »Es wird Zeit«, sagt Jaydens Mutter.
    »Zeit – wofür?«, frage ich, obwohl ich weiß, wovon sie spricht.
    »Zeit zu springen«, entgegnet sie. »Du siehst ja, bald wird es hell.«
    Ich werde nicht die Verantwortung für all das übernehmen. Sie soll es tun, indem sie den Abzug betätigt und schießt.
    Ich springe nicht.
    Ich weiß nicht, sind es Zweifel oder Überzeugung – die Hand am Abzug zittert.
    Nein, wiederhole ich im Innern, ich werde nicht springen.
    Ich werde nicht die Augen schließen.
    Sie soll mich ansehen, wenn sie abdrückt.
    Das ist sozusagen mein Letzter Wille und ich hoffe, meine Hände werden die Metallstange noch umklammern, wenn die Kugel mich trifft.
    Mein Blick fällt auf mein Bild. Habe ich geahnt, was passieren würde? Habe ich deshalb diese Totenmaske als Motiv gewählt? Doch ich bin nicht Robert. Ich kann nicht in die Zukunft sehen.
    Und ich begreife, ich habe nur gespielt. Meine Metamorphose, meine Verwandlung muss anders aussehen, wenn ich das hier überlebe.
    Und noch während ich dies denke, sehe ich einen Schatten hinter Mrs Jones auftauchen. Er zeichnet sich hinter einer der Plastikplanen ab, die sich in der Luft aufbauschen und leise rascheln.
    Und dann taucht jemand in meinem Gesichtsfeld auf.
    Es ist David.
    Farbe klebt an seinen nackten Füßen. Rote Farbe wie Blut.
    David und ich tauschen nur einen ganz kurzen Blick. Es kommt jetzt darauf an, keinen Fehler zu machen. Aber allein seine Anwesenheit gibt mir neuen Mut.
    Die Atmosphäre hat sich verändert. Offenbar spürt auch Mrs Jones das. Sie wird unruhig, nervös, ungeduldig.
    Ich weiß nicht, was sie denkt oder fühlt. Aber die Kälte, mit der sie mich plötzlich wieder ansieht, trifft mich mit voller Wucht. Mit leisem Klicken löst sie den Abzug an der Waffe. Unwillkürlich weiche ich zurück. Meine rechte Hand rutscht vom Geländer ab und für einen Moment verliere ich das Gleichgewicht. Verzweifelt rudert mein Arm in der Luft, bis ich die Metallstange erneut zu fassen bekomme.
    Es bleibt keine Zeit mehr zu überlegen, was zu tun ist. David macht einen Schritt nach vorne. Sein Fuß stößt gegen einen der Farbeimer, der mit lautem Klappern umfällt. Im nächsten Augenblick fährt Mrs Jones herum. Ein Schuss löst sich. Ich höre ihn, erwarte, dass ich falle, doch nichts passiert. Ich stehe fest und sicher auf dem schmalen Metallvorsprung.
    Meine Augen suchen David. Er steht
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