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Der Fluch

Der Fluch

Titel: Der Fluch
Autoren: Krystyna Kuhn
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ans Grace gekommen?«
    »Es war ihre Idee. Du musst mir glauben, ich habe sie zu nichts überredet.«
    »Nein, aber du hast ihr den Studienplatz hier verschafft. Du hast sogar Geld dafür gezahlt.«
    »Ich weiß, Rose.« Ihre Stimme ist ganz leise. »Und ich bin nicht stolz darauf. Aber sie war die einzige Zeugin, die wir hatten.«
    Wieder sehe ich Muriels Gesicht vor mir, höre das nervöse Klimpern ihrer Ohrringe. Und ich verstehe sie, ich verstehe genau, warum sie so lange gezögert hat, mit mir zu reden. Sie hatte sich erst vergewissern wollen, dass ich ihr vertraue. Dass ich ihr glaube. Und umgekehrt.
    Hatte sie deswegen dieselben Fächer belegt wie ich? Und mein Bild kopiert?
    Trotzdem. Hätte sie das Tal nie betreten, wäre sie noch am Leben. »Ich hätte nach Boston kommen können, um mit ihr zu reden«, sage ich.
    »Du hast dich geweigert, nach Hause zu kommen, hast du das vergessen? Und du wolltest von dem Prozess nichts hören.«
    Mom hat recht. Es ist nur so, dass Sallys Tod alles andere in den Hintergrund gedrängt hatte. Sie war es, die meine Gedanken beherrschte. Sie und das Gefühl, ich sei schuld an ihrem Tod.
    Jetzt im Nachhinein kommen mir all diese Gedanken irreal vor und ich begreife, sie waren die Folge des Traumas, das ich erlitten hatte. Nur war ich nicht bereit gewesen, es einzugestehen.
    Aber Muriel hatte gewusst, was uns verbindet, und ich hatte die Chance verpasst.
    »Bist du noch dran?«, höre ich meine Mutter rufen.
    »Ja.«
    »Ich … habe den Stein bestellt.«
    Ich zucke zusammen, zögere und sage: »Das ist gut.«
    »Und du willst das wirklich machen?«
    Ich hole tief Luft. »Ja, Mom. Ich bin bereit.«
    Ein kurzes Schweigen am anderen Ende.
    Ich habe es noch kein einziges Mal über mich gebracht, Sallys Grab zu besuchen. Ich weiß, dass Mom jede Woche auf den Friedhof geht. Ich dagegen bin noch nicht einmal bei der Beerdigung dabei gewesen. Die ganze Zeit damals liegt für mich in völliger Dunkelheit. Die vielen Tage, in denen ich mich in meine Trauer vergraben habe. Irgendetwas in mir wollte damals glauben, Sally sei nicht gestorben. Ich müsse nur warten, bis sie zu mir zurückkam. Es war Mom, die alles organisierte.
    Aber jetzt bin ich bereit für den Abschied. Auf dem Grabstein wird das Bild eingemeißelt sein, das ich gemalt habe. Die Totenmaske und Sallys Antlitz, das das Leben und die Zukunft verkörpert.
    »Wann kommt ihr?«, fragt sie.
    »Am Samstag«, sage ich und lächele.
    Ich bin nicht allein. Meine Freunde werden mich begleiten.
    Heute macht mir der Geräuschpegel in der Bar nichts aus. Der Club Voltaire hat sich am College zu einem absoluten Magneten entwickelt. Das Starbucks wird von Tag zu Tag leerer. Vielleicht liegt es daran, dass wir hier ein Stück Normalität erleben, die wir oft im Tal vermissen. Der Gestank nach Schweiß, das Gedränge, die laute Musik, das Stimmengewirr, das Gelächter, der Geruch nach verbotenem Alkohol, die Zigarettenkippen vor der Tür.
    Von der Theke her winkt mir Sam Ivy zu. Er kann es nicht lassen, mich anzubaggern. Obwohl ich ihm zu verstehen gegeben habe, dass ich ihm das mit der Wette nicht so schnell verzeihen werde. Sie haben Geld auf meinen Körper ausgesetzt. Sich darüber unterhalten, wer mich als Erstes ins Bett bekommt. Und wie ich höre, waren die Einsätze hoch. Aber das ist wirklich nichts, was mich mit Stolz erfüllt.
    Er hebt beide Arme und hebt fragend die Augenbrauen. Und als ich jetzt sein verlegenes Lächeln sehe und seine Versuche, mich versöhnlich zu stimmen, muss ich grinsen. Was ihm erneut Mut macht.
    »Rosy-Rose«, ruft er auch jetzt wieder. »Komm, ich gebe dir einen aus. Alkohol macht kampfunfähig.«
    Ich befürchte, meine unverhohlene Ablehnung hat seinen Wetteifer und Ehrgeiz erst richtig angeheizt und natürlich die Geschichten darüber, wie ich David das Leben gerettet habe. Das ist meiner Meinung nach eine völlig falsche Darstellung des Ganzen. Aber seit den Ereignissen oben im Atelier hat sich das Bild von mir geändert. Ich gelte nicht länger als heilige Rose.
    Ich muss mich nicht lange umsehen, um meine Freunde zu finden. Der Tisch hinten am Fenster ist inzwischen zu unserem Stammplatz geworden. Wir treffen uns so gut wie jeden Abend hier. Katie, David und Robert sind bereits da und stecken die Köpfe zusammen. Ich weiß, worüber sie reden. Worüber sie immer reden. Über das Tal. Doch im Gegensatz zu früher leugne ich nicht länger die Magie dieses Ortes, der mich verändert hat.
    Ich will mich
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