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Der Fluch der falschen Frage

Der Fluch der falschen Frage

Titel: Der Fluch der falschen Frage
Autoren: Lemony Snicket
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irgendein Spezialknoten. Theodora zeigte kopfruckend und augenblinzelnd in Richtung Bad und bedeutete mir, dass ich dort ein Messer finden würde. Ich sah nach, aber ich fand keins. Theodora bedeutete mir, dass ich noch einmal schauen sollte. Ich schaute noch einmal, fand aber immer noch keins. Mit noch komplizierteren Kopfbewegungen und noch heftigerem Blinzeln stellte sie klar, dass sie kein Messer gemeint hatte, sondern eine Nagelschere. Ich fand sie und säbelte damit mühselig das Taschentuch vor ihrem Mund durch, damit sie mich besser anschreien konnte.
    » Das ist ganz allein deine Schuld, Snicket!«
    Wenn man gefesselt ist, ist das für gewöhnlich die Schuld desjenigen, der einem die Fesseln angelegt hat. Andererseits kann man, wenn man gefesselt ist, leicht ein bisschen außer sich sein und Dinge sagen, die man gar nicht meint. » Wie sah er aus?«, fragte ich, während ich die Stoffstreifen an ihren Handgelenken in Angriff nahm. Sie stammten von einem zerrissenen Bettlaken, stellte ich fest, aber die Ränder waren ungewöhnlich schartig und fransig, und an manchen Stellen fühlten sie sich feucht an. Er hatte seine Zähne benutzt. Ich mochte nicht näher über einen Menschen nachdenken, der ein Laken mit den Zähnen zerriss. Es hatte etwas zu Wildes, Tierhaftes.
    » Er trug eine Maske«, sagte Theodora. » Er hat gedroht, mich umzubringen.« Ihre Augen blinzelten immer weiter. Sie hatte zu weinen begonnen. Weinen ist sozusagen das Gegenteil einer Standpauke, denn weinen darf man als Erwachsener nicht. » Er bringt uns beide um, Snicket, wenn er die Statue nicht bekommt. Er ist ein furchtbarer Mann. Er ist verabscheuenswert. Er ist Abschaum, ein Wort, das hier so viel bedeutet wie furchtbar und verabscheuenswert. Wir müssen ihm die Bordunbestie geben.«
    » Das ist gegen unser Versprechen«, erinnerte ich sie, während ein Lakenstreifen von ihren Handgelenken abfiel. » Wir haben versprochen, die Bordunbestie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzubringen.«
    Theodora holte tief Atem und schnappte mir die Nagelschere weg, um ihre Füße zu befreien. » Und warum bringen wir sie dann nicht einfach Mrs Sallis?«
    » Das war nicht Mrs Sallis«, sagte ich. » Das war eine Schauspielerin. Dieser ganze Auftrag war eine Finte, und dahinter steckt Brandhorst. Er imitiert Stimmen am Telefon. Er bedroht die Menschen. Er tut alles in seiner Macht Stehende, um die Statue in seine Gewalt zu bringen. Er darf sie auf gar keinen Fall bekommen.«
    » Du bist nur ein Praktikant in der Probezeit«, sagte Theodora streng. » Du tust gefälligst, was deine Mentorin dir befiehlt. Und jetzt scher dich raus hier. Ich ertrage deinen Anblick nicht mehr.«
    » Aber Theodora…«
    » Raus!«, schrie sie und vergrub das Gesicht in dem verheerten Bett. Ihre Schultern unter der Haarmähne zuckten. Ich wischte den Türknauf sorgsam mit meinem Taschentuch sauber, zog leise die Tür hinter mir zu und trottete todmüde aus der Fernostsuite. Theodora war schon die Zweite, die ich heute aus Brandhorsts Fängen befreit hatte, und zum zweiten Mal erntete ich nur Undank. Auch wenn ich Kaffee nicht mochte, glaubte ich zu wissen, was Ellington mit seiner aufbauenden Wirkung gemeint hatte, und so trottete ich weiter zum Ausgang, vorbei an Prosper Weiss, der sich über ein Blatt Papier beugte und etwas an den Fingern abzählte. Mein Taschentuch warf ich in den Müll. Es roch salzig und besudelt. Boing und Quietsch in ihrem Taxi schliefen schon wieder, und ich brachte es nicht übers Herz, sie zu wecken. Ich ging zu Fuß. Bis zur Ecke Caravan und Parfait war es weniger weit, als ich gedacht hatte. Wie beim letzten Mal schienen die Räumlichkeiten leer, obwohl das Pianola seine reizvolle und schwierige Melodie spielte und die blitzenden Apparaturen nur darauf warteten, mir B oder C vorzusetzen. Aber ich starrte stattdessen auf A und die Ausziehtreppe, die einen zweiten Grund darstellte, warum eine Freundin von mir noch in die Stadt kam.
    Mit etwas mehr Aufmerksamkeit hätte mir auffallen müssen, dass auf dem großen Tisch am Ende der Treppe fast keine Post mehr lag. Aber so aufmerksam war ich nicht. Ich schaute nur auf die Gestalt vor mir, die mir den Rücken zukehrte. Rechts und links von ihr standen ein großer gestreifter Koffer und ein seltsames Behältnis, das die ideale Form für einen altmodischen Plattenspieler hatte. Die Gestalt trug eine grüne Handtasche über der Schulter, die einer Wurst mit Reißverschluss ähnelte, und ließ den Blick
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