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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss
Autoren: Marguerite Yourcenar
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geduldig ertrug. Aufgeweckt durch fernes Gewehrfeuer, verkürzten wir uns manchmal die endlose Nacht mit Kartenspielen. Unser vierter Bridgepartner war ein beliebiger Toter, dem wir meist den Namen oder Vornamen eines eben erst von einer feindlichen Kugel getroffenen Kameraden geben konnten. Sophies mürrische Laune verflüchtigte sich hin und wieder. Im Grunde aber behielt sie ihre scheue und spröde Grazie, wie das Land hier selbst nach Wiederkehr des Frühlings noch lange eine winterliche Strenge behält. Der schmale, nüchterne Lichtschein einer Lampe ließ ihr blasses Gesicht und ihre Hände aufleuchten. Sophie hatte genau mein Alter, was mich hätte warnen sollen, aber angesichts ihres vollentwickelten Körpers erschütterte mich vor allem der Ausdruck verwundeter Jugend in ihrem Gesicht. Es war klar, daß zwei Kriegsjahre allein den eigenwilligen und tragischen Ausdruck ihrer Züge nicht hinreichend erklären konnten. Aber sie hatte, noch im Backfischalter, die Gefahren des Feuergefechts erlebt, hatte die grauenvollen Berichte von Vergewaltigungen und Folterungen mitangehört, hatte gelegentlich gehungert und ständig in Angst gelebt und hatte zusehen müssen, wie eine Rotte roter Soldaten ihre Rigaer Vettern an die Wand des Hauses stellte und erschoß. Die seelische Anstrengung, die es gekostet hatte, sich an diese von Mädchenträumen so sehr verschiedenen Erlebnisse zu gewöhnen, erklärte zur Genüge den Blick ihrer schmerzlich geweiteten Augen. Sophie war nicht zärtlich, oder ich müßte mich sehr irren. Sie war nur unendlich großmütig. Man verwechselt häufig die Symptome dieser beiden so nahe verwandten Krankheiten. Es war offenbar etwas geschehen, das ihr wichtiger war als der Zusammenbruch ihres Landes und der Welt; und endlich begann ich zu begreifen, was jenes monatelange Zusammensein mit Männern, die überreizt waren durch Alkohol und ständig drohende Gefahren, für sie bedeutet haben mußte. Brutale Burschen, von denen sie sich vor zwei Jahren allenfalls zu einem Walzer hätte auffordern lassen, hatten sie allzu rasch mit der Wirklichkeit bekannt gemacht, die sich hinter Liebeserklärungen zu verbergen pflegt. Wie viele Fäuste hatten nachts an die Zimmertür des jungen Mädchens geschlagen, wie viele Arme sich um ihren Körper gelegt, aus denen sie sich mit Gewalt hatte befreien müssen, auf die Gefahr hin, ihr armseliges, schon so mitgenommenes Kleid zu zerreißen oder ihre junge Brust zu verletzen? Ich hatte ein Kind vor mir, das sich schon durch den bloßen Verdacht einer sinnlichen Regung beleidigt fühlte; und die Seite meiner Natur, durch die ich mich am meisten von den banalen Abenteurern unterscheide, denen jedes galante Abenteuer willkommen ist, mußte für Sonjas Verzweiflung das innigste Verständnis haben. Endlich erfuhr ich an einem Morgen im Park, wo Michel Kartoffeln ausgrub, das allen bekannte Geheimnis, das unsere Kameraden ritterlicherweise bis zum Schluß geheim hielten, so daß Konrad es nie erfahren hat. Sophie war von einem betrunkenen litauischen Sergeanten vergewaltigt worden. Der Mann, der später verwundet und ins Hinterland geschafft wurde, war am nächsten Tag zurückgekommen, hatte sich im großen Saal vor dreißig Personen hingekniet und hatte flehend um Verzeihung gebeten – was für das Kind wohl noch widerwärtiger gewesen war als das Erlebnis am Vortage. Wochenlang hatte das junge Mädchen sich mit der Erinnerung und der Angst vor einer möglichen Schwangerschaft gequält. Bei aller Vertrautheit, die später zwischen Sophie und mir bestand, habe ich es nie gewagt, auf dieses Unglück anzuspielen, das, wenn wir auch nie davon sprachen, uns doch stets gegenwärtig war.
    Seltsamerweise brachte meine Mitwisserschaft sie mir näher. Für eine unschuldige und behütete Sophie hätte ich dieselbe leicht genierte Gleichgültigkeit empfunden, die ich in Berlin den Töchtern der Freundinnen meiner Mutter entgegenbrachte. Das Erlebnis ihrer Schändung war meinen eigenen Erlebnissen weniger fremd und versöhnte mich merkwürdigerweise mit meiner einzigen und peinlichen Erinnerung an ein Bordell in Brüssel. Später ließen schlimmere Erfahrungen Sophie diesen Zwischenfall, wohin meine Gedanken ständig zurückkehrten, anscheinend völlig vergessen, und eine so zutiefst unterschiedliche Haltung kann vielleicht allein all die Qualen entschuldigen, die ich ihr bereitet habe. Meine und ihres Bruders Anwesenheit gaben ihr nach und nach den Rang der Herrin von Kratovice
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