Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss
Autoren: Marguerite Yourcenar
Vom Netzwerk:
eine kindliche Unschuld und mädchenhafte Zartheit bewahrt und dabei nichts von jener nachtwandlerischen Tollkühnheit verloren, mit der er sich früher auf den Rücken eines Stieres oder den Kamm einer Welle zu schwingen pflegte. Die Abende verbrachte er damit, schlechte Verse im Rilke-Stil zu verfassen. Auf den ersten Blick merkte ich, daß sein Leben während meiner Abwesenheit stehengeblieben war. Es fiel mir weniger leicht, dies auch für mich selber und gegen den äußeren Schein zuzugeben. Fern von Konrad hatte ich wie auf Reisen gelebt. Alles an ihm flößte mir ein so unbedingtes Vertrauen ein, wie ich es späterhin keinem Menschen je wieder habe schenken können. In seiner Gegenwart und unter dem Zauber von soviel Einfachheit und Freimut waren Leib und Geist entspannt und konnten ungestört und daher um so wirksamer jede sich bietende Aufgabe in Angriff nehmen. Er war der ideale Kriegskamerad, wie er früher der ideale Spielgefährte gewesen war. Freundschaft ist vor allem Gewißheit, was sie von Liebe unterscheidet. Sie ist außerdem gegenseitige Achtung und rückhaltlose Bejahung eines anderen Menschen. Daß mein Freund bereit war, die Summe an Achtung und Vertrauen, die ich in unserer Beziehung investiert hatte, mir bis zum letzten Heller zurückzuzahlen, das hat er mir durch seinen Tod bewiesen. Konrads vielseitige Gaben hätten ihm, eher als mir, gestattet, sich aus Revolution und Krieg in weniger trostlose Landschaften zu flüchten. Seine Verse hätten gefallen, seine Schönheit nicht minder. Er hätte in Paris bei Frauen Erfolg haben können, die junge Künstler protegieren, oder hätte in den Kreisen der damaligen Berliner Bohème untertauchen können. Ich hatte mich in dieses baltische Durcheinander, das nur ein böses Ende nehmen konnte, letztlich nur seinetwegen hineinbegeben; und es wurde mir sehr bald klar, daß er nur meinetwegen solange dort geblieben war.
    Durch ihn erfuhr ich, daß Kratovice vorübergehend von den Roten besetzt gewesen war, die sich auffällig friedlich benommen hatten – vielleicht dank der Anwesenheit des kleinen Juden Grigori Loew, der jetzt, als Leutnant verkleidet, in der bolschewistischen Armee diente und der früher als Angestellter einer Rigaer Buchhandlung Sophie in ehrfürchtiger Ergebenheit bei ihrer Lektüre beraten hatte. Seitdem lag das von unseren Truppen zurückeroberte Schloß mitten im Kriegsgebiet und war ständig plötzlichen Überfällen mit Maschinengewehrfeuer ausgesetzt. Während des letzten Alarms hatten die Frauen sich in den Keller geflüchtet. Nur Sonja – wie man Sophie geschmackloserweise nannte – hatte mit dem Mut des Wahnsinns darauf bestanden, den Keller zu verlassen, um ihren Hund spazierenzuführen.

    Fast ebensosehr wie die Nachbarschaft der Roten beunruhigte mich die Anwesenheit unserer Truppen im Schloß, da sie unweigerlich die wenigen Vorräte meines Freundes aufzehren mußten. Ich begann die Hintergründe des Bürgerkrieges in einer sich auflösenden Armee zu durchschauen: die Schlaueren besorgten sich offensichtlich dort Winterquartier, wo es noch einen mehr oder minder unberührten Vorrat von Weinflaschen und jungen Mädchen gab. Es waren nicht der Krieg und nicht die Revolution, die das Land ruinierten, sondern seine Retter. Das kümmerte mich wenig, Kratovice aber war mir wichtig. Ich wies darauf hin, daß meine topographischen und sonstigen Kenntnisse jener Gegend nützlich verwendet werden könnten. Nach endlosem Hin und Her begriff man schließlich, was doch auf der Hand lag; und ich bekam dank der Hilfe der einen und der Intelligenz der anderen den Befehl, die Freikorpsbrigaden im Südosten des Landes neu zu organisieren, ein kümmerlicher Auftrag, den wir, Konrad und ich, in einem womöglich noch kümmerlicheren Zustand entgegennahmen; denn wir waren verdreckt bis auf die Knochen und so entstellt, daß die Hunde von Kratovice, wo wir erst in dunkelster Nacht ankamen, uns nicht wiedererkannten und uns anbellten. Wir waren – ein schöner Beweis meiner Ortskenntnis – bis zum Morgenrot vor der Nase der roten Vorposten in den Sümpfen herumgewatet. Unsere Waffenbrüder erhoben sich von der Tafel, an der sie immer noch saßen, und stellten uns ritterlich zwei Schlafröcke zur Verfügung. Sie hatten in besseren Zeiten Konrad gehört und waren jetzt fleckig und voller Löcher, die von glühender Zigarrenasche herrührten. Das Gesichtszucken der Tante Praskovia hatte sich durch all die Aufregungen so verschlimmert, daß ihre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher