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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss
Autoren: Marguerite Yourcenar
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russischen Behörden nicht wieder ins Land gelassen worden; vor der Anwesenheit eines sechzehnjährigen Kindes aber schloß man die Augen. Meine Jugend war der Passierschein, der mir gestattete, mit Konrad zusammen auf diesem verlorenen und vergessenen Besitz zu leben, wo man mich der Obhut seiner Tante, einer alten halb närrischen Jungfer, die den russischen Zweig der Familie vertrat, sowie dem Gärtner Michael anvertraute, der alle Eigenschaften eines treuen Hofhundes hatte. Ich erinnere mich, daß wir in dem Süßwasser der Seen und in dem salzigen Brackwasser des morgenrötlichen Wattenmeeres badeten und im Sande unsere Fußspuren, die gleich wieder von dem heftigen Sog des Wassers verwischt wurden, miteinander verglichen; daß wir im Heu nebeneinanderlagen und beide genüßlich Grashalme oder Tabakblätter kauten, während wir über alle möglichen Zeitfragen schwatzten, fest überzeugt, daß wir es einmal sehr viel besser machen würden als unsere Eltern, und ohne zu ahnen, daß nur Katastrophen und verschiedenste Formen des Irrsinns auf uns warteten. Ich erlebe jene Winternachmittage wieder, da wir Schlittschuh liefen oder das sogenannte »Engelspiel« spielten, bei dem man sich in den Schnee legt und dann mit den Armen um sich schlägt, bis die Silhouette des eigenen Körpers Flügel bekommt. Und mir fallen jene glücklichen Nächte wieder ein, da wir bis tief in den Morgen in dem Ehrenzimmer eines lettischen Bauernhofes und unter dem besten Daunenkissen der Bäuerin schliefen, die in jenen Zeiten der Lebensmittelknappheit ebenso gerührt wie entsetzt war über unseren jugendlichen Appetit.

    Selbst Mädchen gab es in diesem nordischen, rings von Krieg umgebenen Paradies; und Konrad hätte sich nur zu gern an ihre bunten Unterröcke gehängt, wenn ich seine Verliebtheit nicht so geringschätzig belächelt hätte. Er gehörte zu jenen empfindlichen und zweifelnden Menschen, die sich durch Geringschätzung zutiefst getroffen fühlen und an ihren liebsten Neigungen zu zweifeln beginnen, sobald eine Geliebte oder ein Freund sich darüber lustig macht. Charakterlich waren wir bei aller Verwandtschaft so verschieden wie Marmor und Alabaster. Konrads Weichheit war nicht nur eine Frage des Alters. Er hatte eine Natur, die alle Falten mit der zärtlichen Nachgiebigkeit eines schönen Samtstoffes annahm und behielt. Man konnte sich ihn mit dreißig Jahren sehr gut vorstellen als kleinen stumpfsinnigen Landjunker, der hinter den Bauernmädchen und -jungen herlief, oder als jungen, eleganten und schüchternen Gardeoffizier und guten Reiter oder als gefügigen russischen Staatsbeamten oder gar unter dem Einfluß der Nachkriegszeit als einen Dichter im Schlepptau von T. S. Eliot oder von Jean Cocteau, der sich in den Berliner Bars herumtrieb. Wir unterschieden uns übrigens nur charakterlich. Körperlich glichen wir uns; wir waren gleich schlank, gleich hart, gleich geschmeidig und hatten dieselbe braune Hautfarbe und dieselben Augen. Konrads Haare waren etwas blonder, aber das ist nebensächlich. Im Felde hielt man uns für Brüder, was uns gegenüber Leuten, die keinen Sinn für leidenschaftliche Freundschaft haben, willkommen war. Wehrten wir uns gelegentlich aus übertriebener Wahrheitsliebe dagegen, so wurde uns allenfalls ein weniger naher Verwandtschaftsgrad zugebilligt, und man hielt uns für Vettern.

    Wenn ich mir gelegentlich eine Nacht um die Ohren schlage, um mich, anstatt zu schlafen oder mich zu amüsieren oder auch einfach allein zu bleiben, mit ein paar halbverzweifelten Intellektuellen zu unterhalten, so setze ich diese Leute immer in Erstaunen durch die Behauptung: ich hätte das Glück gekannt, das wahre und wirkliche Glück, jene unwandelbare Goldmünze, die man zwar gegen eine Handvoll Groschen oder ein Bündel deutsches Papiergeld der Nachkriegszeit umtauschen kann, die aber selbst unverändert bleibt und gefeit ist gegen jede Entwertung. Die Erinnerung an die damaligen Zustände heilt einen von der deutschen Philosophie. Sie hilft einem überdies, einfacher zu leben und auch zu sterben. Ob ich mein damaliges Glück Konrad zu verdanken hatte oder lediglich meiner Jugend, ist unwichtig, denn meine Jugend und Konrad sind zusammen gestorben.
      Die harten Zeiten und das schreckliche entstellende Gesichtszucken von Tante Praskovia änderten nichts daran, daß Kratovice, wie gesagt, für uns ein großes friedliches Paradies war, wo es kein Verbot und keine Schlange gab. Und was das junge Mädchen
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