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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel
Autoren: Polina Daschkowa
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schwebte die alte Protopopowa herein. In der Hand hielt sie ein dickes Hochglanzmagazin, daraus ragten
     weiße Lesezeichen, und Julia musste ihr lange und geduldig erklären, dass sie sich keinerlei plastischen Operationen mehr
     unterziehen dürfe. Die Alte überschüttete sie mit den üblichen Beschimpfungen und Drohungen. Als sich die Tür hinter ihr schloss,
     fühlte sich Julia so erschöpft, als habe sie bei vierzig Grad Hitze ganz allein einen kompletten Güterzug entladen.
    Dann kamen noch zwei Damen, zum Glück beide vollkommen normal. Die eine wollte sich die Falten auf der Stirn entfernen lassen,
     die andere ihre Augenlider korrigiert haben.
    Die Sprechstunde war beendet. Julia aß im Café gegenüber der Klinik, rief zu Hause an und erfuhr, dass die Viper Schura nicht
     aufgerufen hatte und der Tag ganz erträglich verlaufen war.
    »Meiner auch«, sagte sie und versprach, heute früher nachHause zu kommen. Sie musste nur noch zwei stationäre Patienten aufsuchen, dann konnte sie getrost nach Hause gehen.
    Doch fünf Minuten nach dem Telefonat mit ihrer Tochter rief der Chefarzt sie zu sich.
    Wer hat sich wohl beschwert, dachte Julia auf dem Weg zu seinem Büro.
    Mamonow trank Tee und aß Kekse.
    «Ich muss mich mit Ihnen beraten. Ich habe hier eine Patientin …« Er verschluckte sich, hustete, Julia ging um den Tisch herum,
     klopfte ihm auf den Rücken und setzte seinen Satz fort: »die sich beschwert, dass Doktor Tichorezkaja ihr die Operation verweigert?«
    Mamonow hatte aufgehört zu husten, wischte sich die schweißnasse Stirn mit einem Papiertaschentuch ab, lehnte sich im Sessel
     zurück und richtete seine traurigen kleinen Augen auf Julia.
    »Wen haben Sie denn heute abgewiesen, Doktor Tichorezkaja?«
    »Madam Protopopowa«, erklärte Julia breit lächelnd, »und noch zwei Patienten. Der eine hat verlangt, dass man ihm die Haut
     vom Rücken schneidet, um die Haare zu entfernen, denn jedes Haar sei eine hochempfindliche Antenne, die Signale von einer
     geheimen CIA-Basis empfängt.«
    »Großartig.« Mamonow nickte ohne das geringste Lächeln. »Und der dritte?«
    »Eine Mutter mit einer siebzehnjährigen Tochter. Das Mädchen leidet an Anorexie, Dystrophie und Depressionen, sie fühlt sich
     hässlich, obwohl sie schön ist. Sie wollen eine Operation. Irgendeine.«
    »Aha, soso.« Mamonow nickte gleichgültig, stand auf und fasste nach Julias Arm. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen meine Patientin.
     Eine ziemlich bekannte Popsängerin, Angela.Sozusagen ein Star. Kennen Sie sie? Nein? Na, unwichtig. Angela Boldjanko. Sie ist zweiundzwanzig. Vor einem Monat wurde sie
     furchtbar zusammengeschlagen, ihr Gesicht ist total entstellt, es ist alles gebrochen, was man nur brechen kann. Sie wurde
     am Institut für Kiefer- und Gesichtschirurgie behandelt. Die haben ehrliche Arbeit geleistet, aber ziemlich grob. Alle lebenswichtigen
     Funktionen sind wiederhergestellt, aber sie hat noch kein Gesicht. Vier kosmetische Chirurgen haben sie bereits abgewiesen.«
    Sie betraten das Sprechzimmer nebenan. Auf einem Hocker saß ein geschlechtsloses kleines Wesen. Der kahlgeschorene Kopf war
     tief gebeugt und pendelte auf dem dünnen Hals hin und her wie bei einer kaputten Puppe.
    »Angela, darf ich vorstellen, das ist unsere beste Chirurgin, Julia Tichorezkaja.«
    Das Wesen hob langsam den Kopf. Es hatte tatsächlich kein Gesicht. Julia sah eine schiefe Maske voller wulstiger Narben. Die
     Gesichtsmuskeln waren in einer übertriebenen Leidensmiene erstarrt. Nur die Augen waren noch lebendig. Sie schauten Julia,
     ohne zu blinzeln, an. Aus ihnen sprachen Verzweiflung und Hoffnung zugleich.
    Auf einem hellen Bildschirm hingen zahllose Röntgenaufnahmen, auf dem Tisch lag eine dicke Mappe mit medizinischen Unterlagen.
    »Na dann, sehen wir uns das mal an«, sagte Julia mit munterer Stimme, zog sich einen Stuhl heran, berührte die Maske vorsichtig
     und drehte sie ins Licht.
     
    Major Sergej Loginow erwachte vom Schmerz. Rasch und gebieterisch breitete er sich im unteren Teil seines Körpers aus, von
     den Füßen bis zur Hüfte, schwoll an und pulsierte in jeder Zelle. Schwester Katja kam, wechselte den Tropf und spritzte ihm
     ein Schmerzmittel.
    Sie erzählte, das Hospital befinde sich in der Nähe vonMoskau, der nächste Ort sei die Stadt Taldom. Man habe ihn bewusstlos und im Zustand schwerer Unterernährung hergebracht,
     seine Beine seien total zermatscht gewesen.
    Ihm schien, als rede sie absichtlich so viel,
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