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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel
Autoren: Polina Daschkowa
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vermutlich
     eine Nasenkorrektur wünschte. Die Nase war lang, spitz, raubtierhaft und beeinträchtigte das ansonsten angenehme Gesicht.
    Der junge Mann blickte sich ängstlich um, setzte sich auf die Stuhlkante, senkte den Kopf und nestelte an einem Knopf seines
     Jacketts.
    »Ich höre«, wiederholte Julia.
    »Schauen Sie es sich erst einmal an, Doktor«, flüsterte er heiser, ohne den Kopf zu heben.
    »Gut.« Julia nickte. »Aber was eigentlich?«
    Der junge Mann trat an den Tisch, zog sein Jackett aus, hob das Hemd und drehte Julia den Rücken zu.
    »Nun?«, fragte der junge Mann. »Sehen Sie dieses Grauen?«
    »Noch sehe ich nichts Grauenhaftes. Seien Sie so gut und erklären Sie mir, was Sie beunruhigt.«
    »Die Haare!«, rief er mit dünner Stimme klagend aus. »Sehen Sie genau hin! Haben Sie eine Lupe?«
    Sein Rücken war in der Tat ziemlich dicht mit rotem Haar bewachsen.
    »Dazu brauche ich keine Lupe. Ziehen Sie sich bitte wieder an«, sagte Julia streng. »Körperbehaarung ist bei einem Mann normal,
     das ist nichts Schlimmes. Aber wenn die Haare auf dem Rücken Sie stören, müssen Sie in den ersten Stock gehen, dort sitzt
     die kosmetische Abteilung. Ich bin Chirurgin, ich befasse mich mit anderen Dingen.«
    »Ich kenne alle diese Methoden. Aber ich bin ein besonderer Fall. Ich brauche einen Chirurgen.«
    »Wieso einen Chirurgen?«
    »Nehmen Sie eine Lupe, Doktor«, wiederholte er, ohne sich zu rühren. »Schauen Sie genau hin, dann werden Sie verstehen.«
    Julia untersuchte gewissenhaft die roten Haare auf dem Rücken des Patienten. Wer weiß, vielleicht hatte er dort einen juckenden
     Ausschlag, der ihn rasend machte?
    »Nun, wissen Sie jetzt Bescheid?«, fragte der junge Mann.
    »Ehrlich gesagt, nicht ganz.« Julia legte die Lupe beiseite. Er hatte keinen Ausschlag.
    »Sehen Sie denn nicht, wie sie sich bewegen?«, flüsterte er, ließ das Hemd fallen und wandte sich zu Julia um. »Oh,ich schließe nicht aus, dass sie sich verstellen. Das können sie nämlich, wissen Sie. Sie stellen sich still und harmlos,
     aber sobald ich nicht aufpasse, legen sie los. Es sind Tausende, Hunderttausende, und jedes einzelne ist eine hochempfindliche
     Antenne. Sie empfangen Signale von einer geheimen CIA-Basis. Mein Körper wird beeinflusst. Verstehen Sie jetzt, dass man sie
     restlos entfernen muss, mitsamt den Wurzeln?«
    »Ja, ich verstehe.« Julia nickte brav. »Aber in der Kosmetikabteilung wird man damit problemlos fertig. Durch Elekroepillation
     kann man die Haarwurzeln vernichten, auch mit neuartigen Laserverfahren.«
    »Ich brauche eine Hauttransplantation«, kiekste der junge Mann.
    »Gut.« Julia nickte. »Aber vorher müssen Sie alle nötigen Labortests machen lassen und verschiedene Fachärzte aufsuchen.«
    »Was denn für Fachärzte?« Sein Lächeln wich einer besorgten Miene.
    »Innere, Kardiologie, Allergologie, Psychiatrie«, zählte Julia streng auf.
    »Aber das hier ist doch eine Privatklinik!«, schnaubte der junge Mann. »Wozu das alles?«
    »Das ist üblich. Sonst kann ich Sie nicht operieren. Vika, schreiben Sie bitte die Überweisungen aus«, wandte sie sich an
     die Schwester, die sich die Hand auf den Mund presste. »Seien Sie so gut und warten Sie draußen. Ich muss den nächsten Patienten
     hereinrufen.«
    Entgegen ihren Befürchtungen verließ der junge Mann das Sprechzimmer ganz ruhig. Als die Tür hinter ihm zugefallen war, lachte
     Vika laut heraus. Ihre Wangen färbten sich schwarz von der Wimperntusche, sie fiel fast vom Stuhl – ihr Lachen war bestimmt
     auch im Flur zu hören.
    »Ich kann nicht mehr, Julia Nikolajewna, ich kann nichtmehr … Wissen Sie, wer die Nächste ist? Die Protopopowa! Das halte ich nicht aus, Ehrenwort.«
    Alla Protopopowa war vor kurzem siebenundsiebzig geworden. Sie hatte schon ein Dutzend plastische Operationen hinter sich
     und wollte noch mehr. In einer neuen Fernsehserie gefielen ihr Kinn und Nase einer feurigen Mexikanerin, und sie hielt den
     Ärzten Fotos unter die Nase und verlangte, sie wolle genau das plus ein kleines Lifting, denn »hier ist eine kleine Falte«.
     Ihr Gesicht war längst eine starre Maske. Wenn man sie abwies, wurde sie wütend, schrieb Beschwerden ans Gesundheitsministerium,
     ans Innenministerium und an die Steuerbehörde.
    »Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass die Verrückten immer gleich scharenweise kommen?« Vika hickste, schneuzte sich laut
     und wischte sich die Tuschespuren vom Gesicht.
    In diesem Augenblick
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