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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel
Autoren: Polina Daschkowa
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Ergebnisse der Tests und die speziellen Computeruntersuchungen, denen er
     sich unterzogen hatte. Er musste mal wieder in die Sauna gehen, ein bisschen auf dem Tennisplatz herumhüpfen, sein morgendliches
     halbstündiges Jogging bei jedem Wetter erneut aufnehmen, dann würde alles wieder gut.
    »Wladimir, haben Sie etwas gesagt?« Die Stimme kam von weither, er zuckte zusammen und blickte sich zerstreut um. Er hatte
     das Gefühl, der eisige feuchte Märznebel sei durch das Fensterglas eingedrungen und habe sich im Büro ausgebreitet. Er sah
     verschwommene Silhouetten, sie öffneten den Mund, bewegten den Kopf, vollführten bizarre Verrenkungen und zerfielen in Einzelteile,
     die sich selbstständig weiterbewegten, wie von einem Spaten zerhackte Regenwürmer.
    Von einem schrillen Telefonklingeln kam er wieder zu sich. Er griff nach dem Hörer wie nach einem Rettungsring. Seine Hand
     war so feucht, dass ihm der Hörer beinahe entglitten wäre.
    »Ja«, sagte er heiser und bemerkte erleichtert, dass der Nebel sich aufgelöst hatte.
    »Wladimir!«
    Er begriff nicht gleich, dass seine Frau dran war. Sie konnte ihn jetzt nicht anrufen, sie wusste genau, dass er eine außerordentliche
     Vorstandssitzung hatte und dabei keinesfalls gestört werden durfte.
    »Was gibt es, Natalja?«
    »Jemand wollte Stas töten. Hier bei mir sitzt ein Ermittler, ich gebe ihm den Hörer.«
    »Moment, ich verstehe nicht …«
    »Guten Tag«, sagte ein fremder Mann, »Genosse General. Leitender Untersuchungsführer Tschishow.«
    »Sehr angenehm«, reagierte Gerassimow mechanisch, »was ist passiert?«
    »Um es vorwegzunehmen, damit Sie sich keine Sorgen machen, Genosse General, mit Ihrem Sohn ist alles in Ordnung«, erklärte
     die hohe, muntere Stimme im Hörer. »Heute Nacht brachten zwei Unbekannte am Boden seines Wagens einen Sprengsatz an, zum Glück
     gab es keine Explosion, aber wir haben ernsthafte Gründe für die Annahme, dass sich der Anschlag wiederholen wird.«
    »Wo ist das passiert?«
    Gerassimow wusste, dass es in Stanislaws Haus eine rund um die Uhr bewachte Tiefgarage mit Alarmanlage gab. Der Sprengsatz
     konnte nur auf einem fremden Hof an das Auto gekommen sein.
    »Stanislaw hat bei einer Bekannten übernachtet«, sagte der Ermittler nach einem Räuspern mit gesenkter Stimme. Er schien sogar
     die Hand auf den Hörer gelegt zu haben. »Es ist auf dem Hof ihres Hauses passiert, in Konkowo. Wir müssen uns dringend treffen
     und miteinander reden. Stanislaw weigert sich, unsere Fragen zu beantworten.«
    »Wo ist er?«
    »Genau das wollte ich Sie fragen, Genosse General. Er geht nämlich an keines seiner Telefone, er ist nicht zu Hause und nicht
     am Arbeitsplatz.«
    Während Gerassimows Telefonat saß der Vorstand schweigend da. Zwölf Augenpaare waren gierig auf das blasse, schweißglänzende
     Gesicht des Vorsitzenden gerichtet. Alle begriffen: Bei dem eisernen Wladimir war etwas Ernstes geschehen, und jeder wollte
     wissen, was. Schließlich legte erauf und sagte dumpf, ohne jemanden anzusehen: »Ich bitte um Entschuldigung. Ich muss sofort nach Hause.«
    »Was ist passiert, Wladimir?« Nadeshda saß ihm am nächsten; sie streckte den Arm aus und berührte die feuchte Hand des Generals.
     »Können wir helfen?«
    »Danke. Sie können alle gehen.« Er zog die Hand zurück wie vor einem Stromschlag. »Die Sitzung ist auf morgen vertagt. Ich
     erwarte Sie alle hier um neun.«
     
    Als Julia Tichorezkaja endlich nach Hause aufbrechen wollte, bemerkte sie im Sessel vor ihrem Sprechzimmer eine einsame Gestalt.
     Im Flur herrschte Halbdunkel, darum erkannte sie die Sängerin mit dem entstellten Gesicht nicht gleich. Angela döste vor sich
     hin, den in ein schwarzes Tuch gehüllten Kopf auf der hohen Armlehne.
    »Warum fährst du nicht nach Hause?«, fragte Julia.
    Das Mädchen zuckte heftig zusammen und setzte mit einer hastigen, bereits geübten Bewegung die riesige dunkle Brille auf.
    »Mein Produzent Gena sollte mich abholen, aber er ist verschwunden. Sein Handy ist ausgeschaltet, und ich hab kein Geld für
     ein Taxi, nicht mal für die Metro.«
    »Na komm, ich fahr dich nach Hause.«
    »Danke.« Angela stand auf und trottete hinter Julia die Treppe hinunter.
    Im hell erleuchteten Foyer riskierte Julia einen Blick auf das karikaturenhafte tragische Profil im riesigen Spiegel. Tuch
     und Brille verbargen vieles, aber die Entstellungen waren dennoch augenfällig, und Julia warf sich gereizt vor, voreilig gewesen
     zu sein.
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