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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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Fensterviereck. Eben biegt er um die Ecke der Stiege; unten biegt der Mann mit der Kapitänsmütze um die Ecke der Stiege. Es ist Etzel, als sei dies von folgenschwerer Bedeutung, obwohl er es mit seiner Vernunft nur als Zufallsbegegnung betrachten kann. Herr von Andergast nickt den Knaben zu, stellt eine gleichgültige Frage (»Seid ihr schon fertig mit dem Tag!« oder so), ohne im Hinabschreiten innezuhalten; dann fällt sein Blick auf den Mann mit der Kapitänsmütze. Dieser bleibt sofort stehen, mit dem Rücken gegen die Mauer, soldatisch stramm, legt zwei Finger an den Schirm seiner Mütze und sagt mit komisch-krächzendem Ton, militärisch kurz, was gleichfalls komisch wirkt: »Ich heiße Maurizius.« Dabei greift er mit der linken Hand schwerfällig, wegen der augenscheinlichen Starre des Arms, in die innere Tasche seines Pelzrocks und will etwas hervorholen. Herr von Andergast dreht den Kopf, sieht ihn an, eine Sekunde, zwei Sekunden – er hat seine hochmütige Miene und den matten Blick aus halbgeschlossenen Lidern –, sieht ihn an und geht weiter. Dann wendet er den Kopf noch einmal, die Stirn ist leicht gerunzelt, er macht mit der Hand eine unwillige Gebärde und beschleunigt seinen Schritt. Alles dies hat nicht länger als anderthalb Minuten gedauert, aber Etzel weiß nun bestimmt, daß auch der Vater den Mann mit der Kapitänsmütze kennt, daß er ihn hier auf der Treppe nicht zum erstenmal gesehen hat; aus dem Gesichtsausdruck des Vaters hat er es entnommen, aus der unwilligen Gebärde, aus der Bewegung des Rückens noch und der Art, wie er Stufe um Stufe die Treppe hinuntergeht, während jener Maurizius noch an der Mauer steht, soldatisch stramm, die linke Hand im Innern des Pelzrocks, die Augen mit dem astigmatischen Blick hinab in das Dämmer des Stiegenhauses gekehrt.
    6

    Und so war es wirklich: Herr von Andergast hatte den Alten mit seiner trägen Ruhe und späherhaften Beharrlichkeit wiederholt vor sich auftauchen sehen. Es gab viele, die in seinen Weg traten, niemand tat es ohne Scheu, wenige ohne Beklommenheit. Dieser schien weder Scheu noch Beklommenheit zu spüren. Er machte zwar nicht den Eindruck eines Strolches oder eines Deklassierten, ganz und gar nicht; eher erinnerte er an einen Provinzler, der sich in gedrückten Umständen befindet und sich in der Großstadt nicht recht zu bewegen weiß. Dennoch war in seinem Gehaben ein Mangel an Ehrerbietigkeit, eine gewisse Frechheit sogar, die Herrn von Andergast auf die Nerven fiel. Er wußte nicht, wer der Mann war. Er hatte ihn, wie er meinte, nie zuvor erblickt. Eines Tages stand er da wie jemand, der sich um jeden Preis Beachtung ertrotzen will. Es war um die Mittagsstunde. Mit demselben Frösteln, das ihn stets überkam, wenn er das Justizgebäude verließ, und woran an diesem Tag auch die warme Märzsonne nichts änderte, knöpfte Herr von Andergast seinen Mantel zu, bedachte mit blicklosem Nicken den devoten Gruß des Pförtners und trat den Nachhauseweg an. Er legte den Weg täglich zu Fuß zurück. Auf den belebten Straßen war er unzählige Male genötigt, den Hut zu lüpfen; und obwohl er auch diese Zeremonie blicklos ausführte, hatten doch Haltung und Geste jedesmal die Schattierung, die dem sozialen Rang des andern entsprach, vom flüchtigen Berühren der Krempe bis zum Emporheben des Hutes und dem gemessenen kurzen Halbkreis, den er in der Luft beschrieb, um langsam auf das kahle Haupt zurückzukehren. Diese andern aber, wer sie auch sein mochten, Handwerker, kleine Kaufleute, Bankdirektoren, Redakteure, Gutsbesitzer, Stadtverordnete, zeigten bei ihrem Gruß die hastige Beflissenheit, die sie der hohen Funktion des Herrn von Andergast wie auch dem gefürchteten Manne schuldig zu sein glaubten. Gewöhnt an die Reverenz einer ganzen Stadt, ging er kalt durch sie hindurch. Sein steif vorangerichteter Blick nahm an den Bildern der Straße keinen Anteil. Nicht nur das, seine Miene leugnete gleichsam ihre Wirklichkeit, als sei diese Wirklichkeit eine Falle für ihn, als enthalte sie eine verletzende Intimität, und sein Schritt hatte nicht nur das charakteristisch Gehemmte, das Männern eigen ist, die sich hauptsächlich in geschlossenen Räumen bewegen, sondern auch das charakteristisch Vorübergehende derjenigen, die sich beständig gegen Behelligungen zu schützen haben. Und da war nun diese Gestalt am Wege. Ein Unbekannter, der es wagte, ihm, Herrn von Andergast, Leiter der Oberstaatsanwaltschaft, ins Gesicht zu starren. Mit einer
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