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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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nur«, schäumt er, »das wird euch nicht geschenkt, das werdet ihr büßen, es kommt schon noch die Reihe an euch . . .« Herr von Andergast steht eine Weile erstarrt da. Steinerne Säule. Plötzlich macht er eine Gebärde, um den Knaben zu packen. Er umklammert Etzels Schulter. Der entwindet sich ihm, wobei sich sein Gesicht vor Angst, Zorn und Abscheu verzerrt. »Ich will nicht dein Sohn sein«, bricht es in maßloser Wildheit aus ihm hervor. – »Infamer Bube!« röchelt Herr von Andergast, sieht aber dabei aus wie einer, der was zu erbetteln hat. Etzel läuft zur Eßzimmertür. Herr von Andergast ihm nach. Etzel rennt atemlos durch das Eßzimmer ins Wohnzimmer. Herr von Andergast ihm nach. Etzel stürzt in den Korridor. Herr von Andergast ihm nach. Die Türen hinter ihnen bleiben offen. Etzel wirft Stühle um, die ihm im Weg sind. Die Rie steht im Flur, er stößt sie beiseite und rennt zu seiner Stube. Herr von Andergast ihm nach. Seine mächtige Figur, laufend, mit vorgreifenden Händen, hat etwas entschieden Grausiges. Das Ganze hat den Charakter einer grausigen Jagd, sinnlos, gespensterhaft. Die Rie, stumm entsetzt, öffnet den Mund, die Sprache weigert sich ihr. In seiner Stube angelangt, haut Etzel die Tür zu, dreht den Schlüssel um. Herr von Andergast poltert an die verschlossene Tür. Köchin und Stubenmädchen eilen aus der Küche. Man vernimmt aus dem versperrten Zimmer langandauerndes Geklirr von zerbrechendem Glas. Die Rie stößt einen Schrei aus, daß oben und unten im Haus alles zusammenläuft. Mit seiner Riesenkraft stemmt sich Herr von Andergast gegen die Tür, es gelingt ihm, sie zu sprengen. Ein Satz, und er ist im Zimmer. Die Rie folgt händeringend. Auf der Schwelle drängen sich die Andergastschen und die Malapertschen Dienstleute, das Hausmeisterpaar und ein Briefträger, der eben die Post gebracht hat. Etzel steht blutüberströmt am Tisch. Herr von Andergast wankt auf ihn zu, nimmt seinen Kopf zwischen beide Hände. »Wasser, Wasser«, lallt er. Jemand läuft um Wasser. Die Rie faltet betend die Hände.
    Was ist eigentlich geschehen? Etzel hat die Scheiben beider Fenster zertrümmert, und nicht nur das, auch den Spiegel an der Schranktür, die Gläser auf dem Waschtisch, die Porzellanvasen auf der Kommode hat er zerschlagen. Tobsüchtiger Zerstörungstrieb. Raserei der Seele. Von Schläfen, Wangen, Nase rieselt das Blut. Er ist einfach mit dem Kopf in die Scheiben gefahren, den Spiegel hat er dann mit den Fäusten bearbeitet, so daß die Hände bis zu den Gelenken zerschnitten, die Kleider über und über mit Blut besudelt sind. Danach ist er auf einmal ruhig geworden, jetzt steht er ruhig am Tisch, betrachtet mit einem Lächeln voll wilder Genugtuung seine Wunden und blinzelt mit den Lidern, weil ihm das Blut über die Augen rinnt. Ja, es ist ihm auffallend still zu Sinn, plötzlich, fast als ob mit dem Blut ein Teil der herzvergiftenden Enttäuschung aus den Adern fließe, er sieht aus wie ein Gestürzter, der sich langsam erhebt und hilflos um sich schaut und nach dem Weg fragt, den er verloren oder verlassen hat. Da, wo er steht, geht's nicht weiter, er schaut sich um und erkundigt sich, wo es weitergeht. Dabei fiel Etzels Blick auf den Vater, etwas wie zögerndes Erstaunen malte sich in seinen Zügen, als ob aus der gewohnten Gestalt, die einen überragt hat, eine andere geworden sei, die gleichsam ein paar Treppen tiefer stand als man selber, zu der man sich sogar ein wenig herabbeugen mußte, um sie zu erkennen. Nicht mehr rätselhaft, nicht mehr Wahrer und Wisser von Geheimnissen, nicht mehr Regent dunkler Schicksale, nicht mehr Trismegistos, sondern niedergebrochener, schuldiger Mensch. Herr von Andergast hatte den Mund halb geöffnet, man gewahrte seine großen Zähne, so, mit halbgeöffnetem Mund, ließ er sich auf den Stuhl nieder, die veilchenblauen Augen traten wie Knöpfe aus den Höhlen, jedes Ausdrucks bar. (Als er am Nachmittag, vom Arzt begleitet, in die Heilanstalt fuhr, sah er noch genau so aus, der Mund halb offen, die vorgequollenen Augen ohne Blick und Ausdruck.) Grübelnd betrachtete Etzel das vor seinen Augen sich förmlich zersetzende Gesicht, und während die Rie daran ging, ihm das Blut von Wangen, Stirn und Händen abzuwaschen, sagte er mit trocken-heller Bubenstimme: »Man soll meine Mutter holen.«
    Was auch geschah.
    4

    Damit endet der Fall Maurizius, nicht aber die Geschichte von Etzel Andergast.
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