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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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spüren beide an den Worten des andern sofort die Einsamkeit heraus, in der sich jeder von ihnen befindet. Die Frau scheint aber stärker berührt, Ahnung des Ungeheuern geht ihr auf, ohne Zweifel besitzt sie tiefen Instinkt. Sie wird schweigsamer, je näher man ans Ziel kommt, eine schwermütige Lässigkeit drückt sich in ihrem Wesen aus, so als ob sie schlaftrunken mit halbem Leib über einem Abgrund hinge und es ihr ziemlich gleichgültig, vielleicht sogar angenehm wäre, wenn sie hinunterstürzte. Maurizius versteht, mehr mit den Sinnen als mit dem Kopf, sein Herz schwillt in den Hals empor, auch er wird wortkarg, sie schauen einander an, stumm, groß, scheu, lange, lange Minuten, sein Gesicht ist totenbleich, ihres hat den schmerzlich-gespannten Ernst eines Menschen, der noch nicht erraten kann, auch nicht wissen will, ob er gezüchtigt oder geliebkost werden wird. Sie verlassen zusammen den Zug, sie gehen Seite an Seite zur Autohaltestelle, ohne Verabredung steigen sie beide in den Wagen, die Frau nennt eine Straße in Halensee, schweigend fahren sie den weiten Weg. Die Frau bemerkt, daß Maurizius zuweilen zittert, dann schaut sie still vor sich hin und lächelt. Sie hat eine kleine Wohnung dort in Halensee, zwei Zimmer im vierten Stock, behaglich, ordentlich, mit einem Anhauch von Luxus sogar, Blumen und Büchern. Was mag sie für eine Frau sein? Geschieden? kinderlos? vom Schicksal gewürgt? in eine letzte Zuflucht gedrängt? Er erfährt es nicht, ist nicht neugierig danach, so wie sie keine Lust hat zu erfahren, was sich in den nächsten Stunden mit ihr ereignen wird. Keinesfalls gehört sie zu den »Gestorbenen«, das ist ganz sicher, lebendig steht sie da, in einer Art von Hochherzigkeit, weich, spöttisch, achtlos, manche Frauen haben das, wenn sie mit ihren Hoffnungen am Ende sind (mit halbem Leib »über dem Abgrund«), dieses süße Phlegma, das von einer gelösten Seele zeugt. Sie bereitet Tee, deckt den Tisch, ermuntert ihren Gast zum Zugreifen, und da sie plötzlich bei der Anrede stockt, nennt er seinen Namen, den wahren Namen. Sie denkt nach, schaut ihn an, denkt wieder nach. Er sagt: Ich bin der und der. Zehn Worte. Inhalt: zwanzig Jahre. Sie schaut ihn an. Um den weichen Mund zuckt es, sie kämpft sichtlich mit der Angst, daß er jedes Gefühl mißdeuten wird, das sie kundgibt, aber auch jedes, und das ist eine wundervolle Zartheit, so läßt sie sich vor ihm auf die Knie nieder, faßt nach seiner Hand und drückt, ehrfürchtig fast, ihre Lippen darauf. Lieber, großer Gott, denkt er, sonst nichts, und sitzt da, ohne Atem, ohne Blick, ohne Laut. Die Frau ist namenlos für ihn, wie schön, daß sie keinen Namen hat, es erhebt sie über alle andern Menschen. Herr, erlöse mich von meinem Namen, betet er inbrünstig. Arme umschlingen ihn. Ein Körper rankt sich an ihm empor. An ihm, an ihm . . . empor! Könnte er doch etwas tun, um zu danken. Er hat keinen Dank, er hat keine Gabe. Plötzlich ist er allein. Wo ist sie hin? Offenbar hat sie ihn verlassen. Alles ist zu Ende, sie wird nie wiederkommen. Er erhebt sich hoffnungslos, schaut sich um, horcht, betritt das andere Zimmer, da liegt sie im Bette und wartet auf ihn, ihre Augen strahlen in erschütternder Glut. Es kann nicht Wirklichkeit sein, es ist alles ein Traum. Das Licht im Zimmer erlischt. Sie liegen beieinander. Flüstern und Verstummen. Regungslosigkeit. Flüstern und Verstummen. Stunden vergehen. Ein heiseres Aufschluchzen, hart, verzweifelt. Das ist er. Die Namenlose will trösten. Nein, kein Trost, kein Trost. Das Geschlecht ist gemordet. Man hat also, es ist erwiesen, nicht mehr teil an der Welt. Auch das Geschlecht ist gemordet.
    Als der Tag vor den Fenstern aufschimmert, erhebt sich Maurizius, kleidet sich hastig an; die Frau ist eingeschlummert und hört nicht, wie er sich entfernt. Mit seiner Reisetasche in der Hand (das große Gepäck liegt noch im Bahnhof) geht er durch die Straßen, die Morgenluft erfrischt ihn. Er sucht ein Hotel auf und schläft bis zum Abend. Erwacht, fühlt er sich sonderbar wohl, nimmt ein Bad, bestellt eine reichliche Mahlzeit. Gegen neun Uhr fährt er zur Bahn, löst eine Karte erster Klasse nach Leipzig; in Leipzig entschließt er sich, mit dem Nachtzug weiter nach Süden zu fahren. Ein bestimmtes Ziel hat er nicht im Sinn, er nennt irgendeine Stadt, weil ein Ziel angegeben werden muß. Er ist allein im Abteil. Er liest Zeitungen, schlägt ein Buch auf und legt es wieder beiseite. Er schließt die
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