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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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hängt seine Kleider nicht mehr zum Bürsten heraus. Oder: er hat sich einmal drei Tage nicht rasiert. Und das Wunderlichste: Er scheint gar nicht zu arbeiten, wenn er vom Mittag bis in die Nacht an seinem Schreibtisch sitzt. Die Rie hat ihn vorgestern dabei überrascht (sie mußte ihm eine Depesche hineintragen), wie er mit aufgestütztem Ellbogen am Fenster gesessen ist, gedankenvoll damit beschäftigt, sein silbernes Benzinfeuerzeug auf und zu schnappen zu lassen. Vielleicht hängt alles das mit einem unglaubwürdigen Gerücht zusammen, das aber nicht aufhören will zu kursieren, nämlich daß er um seine Pensionierung eingekommen sei.
    Etzel hörte aufmerksam zu, sagte jedoch kein Wort. Er sah, daß die Rie noch anderes auf dem Herzen hatte, aber zuerst trieb sie ihn ins Bad, und während er sich fertigmachte, sorgte sie für einen ausgiebigen Imbiß. Sie deckte selbst den Tisch, schaute eine Weile stumm-entzückt zu, wie er alles Aufgetragene mit Appetit verschlang, und wagte die Bemerkung: »Gewachsen bist du, Etzelein, und siehst so männlich aus, was ist denn eigentlich mit dir gewesen, wenn ich's überlege, steht mir der Verstand still.« – »Laß ihn nur ruhig stehen und überleg nichts«, fiel er ihr trocken in die Rede, »erzähl mir lieber noch was, du bist ja geladen mit Neuigkeiten, also heraus damit.« Die Rie beugte sich zu ihm hinüber und teilte ihm mit, seine Mutter sei in der Stadt und wohne bei der Generalin. Da sprang Etzel auf. »Ist's wahr, Rie; Ehrenwort?« – Sie nickte und fügte hinzu, Frau von Andergast sei vor zehn Tagen hier im Hause gewesen und habe eine lange Unterredung mit dem Vater gehabt, auch mit ihr habe sie gesprochen, nicht viel freilich, Gruß und Dank nur, aber man habe doch daraus entnehmen können, daß sie eine vollendete Dame sei. – »Und wie sieht sie aus, Rie; Nett? Jung? Hast du sie gut angeschaut? Sag mir's genau.« Er schlang den linken Arm um ihren Hals, mit der rechten Hand streichelte er ihre Wangen. Die Rie, solcher Zärtlichkeiten von ihm längst entwöhnt, wurde ganz schwach vor Glück und vergoß angenehme Tränen. – »Sie wohnt also bei der Großmutter, wirklich, Rie?« – »Ja, Etzelein, und wir müssen gleich telephonieren, unverzeihlich, daß ich's bis jetzt nicht getan hab.« – Etzel hielt sie am Ärmel fest. »Nein. Wart noch, Rie. Ich mag das nicht, telephonieren. Das schickt sich nicht. Ich geh selber hin. Vorher muß aber noch was anderes sein . . .« In dem Augenblick öffnete sich weit die Tür, und Herr von Andergast stand im Rahmen.
    2

    Unverkennbar die von der Rie angedeutete Veränderung. Schon in der Kopfhaltung drückte sie sich aus. Das Haupt schien schwerer auf den Schultern zu lasten und mit seinem Gewicht den Hals zu verdicken. Der Kinnbart war von vielem Weiß durchsetzt, auch die Randbehaarung des kahlen Schädels spielte vom Grau stärker ins Weiß hinüber, die Lider hoben und senkten sich träger, der veilchenblaue Blick hatte etwas wie von Fesselung Schlaffes. Desorganisation. Eine Gedankenwelt, der die Ordnung abhanden gekommen war. So konnte nur ein Mann aussehen, dem gewisse Dinge näher gekommen waren, als er je vermutet und befürchtet. Aufgehobene Distanzen. Der Bezweiflung unterworfene Unverrückbarkeiten. Rückläufige Bewegung. Das Totale zersprengt und aberzersprengt und in die rohe Elementarform aufgelöst. Man denke sich einen Palast in den Steinbruch zurückverwandelt, aus dem er entstanden ist, und davor den Baumeister, von allen Gehilfen und Hilfsmitteln verlassen und selbst die Maße nicht mehr wissend. Es nimmt nicht wunder, wenn dieser Mann das Bild eines verstörten Suchers bietet. Ein äußerst angestrengter Zug im Gesicht verrät die zwangshafte Beschäftigung mit Abgeschlossenem. Prüfung, Kritik, Spruch und Widerspruch, wobei der Instanzenweg ins Innere des Menschen verlegt ist. Bequemes Mittel, der Notwendigkeit, sich zu stellen, aus dem Weg zu gehn, wird vielleicht eingewendet. Doch auf die Gewissensentscheidungen hat es wenig Einfluß, und von Belang sind zunächst nur die. Das heiß ich die Dinge nah betrachten, wenn man sich zu ihnen umkehrt, der Vorwärtsschreitende kann sich alles vom Leib halten, was ihn an Verfall und Verfehlung gemahnt. Dreht er sich aber ein einziges Mal um, so umschwirrt ihn widriges Gezücht wie Fledermäuse, die in unbewohnten Baracken hausen, und er hört auf zu sein, was er ist, Beamter zum Exempel, dessen Sachlichkeit von keinem Hinter-die-Dinge-Blicken getrübt
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