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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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für bewiesen erachten. Ich supponiere, daß wir einwandfreie Beweise dafür in Händen haben –« – »Du kannst es getrost annehmen«, wirft Etzel bebend vor Ungeduld hin, »es ist so.« – »Deine subjektive Überzeugung. Mit der du jedoch den Boden der Wirklichkeit verläßt. Laß mich ausreden. Du fällst mir beständig in die Rede. Deine Manieren sind recht merkwürdig. Ich sage, du unterliegst einem verhängnisvollen Irrtum. Von juristischer Unanfechtbarkeit sind wir weit entfernt. Hast du das Geständnis schriftlich? Mit notariell beglaubigter Unterschrift? Also. Geständnisse können zurückgenommen werden. Es ist sogar die Regel. Es gibt hundert Mittel, sich ihren Folgen zu entziehen. Die seit dem Verbrechen verflossene Zeit schließt verläßliche Recherchen und Feststellungen glatterdings aus. Zeugen; was erlebt man nicht von Zeugen. Das erste Verhör macht sie unsicher, beim zweiten fallen sie um. Frage dich, ob bei den schwankenden Faktoren, die du ins Feld zu führen hast, das Resultat den Aufwand lohnt. Du hast es nicht zu bedenken. Ich habe es zu bedenken.« – Etzel streckt den Arm aus. »Du hast einen andern Satz angefangen, du supponierst, er ist unschuldig, du willst es für bewiesen halten, hast du gesagt . . . nun und was dann?« – »Es würde nichts ändern.« – »Nichts ändern? Ist das dein Ernst? Nichts ändern, wenn du selber von seiner Unschuld überzeugt bist?« – »Nein. Nichts. Da ist eine Schranke, vor der auch unsere Überzeugung haltzumachen hat.« – »Aber es handelt sich um was Ungeheures! Um das Allergrößte auf der Welt, um Gerechtigkeit!« ruft Etzel, der nun vollständig die Fassung verloren hat, »ein Urteil kann man doch für ungültig erklären. Wenn man auch die Strafe nicht ungeschehen machen kann, das Urteil kann man doch umstoßen, die Ehre kann man, muß man dem Menschen doch zurückgeben. Und nicht bloß die Ehre . . . was ist denn die Ehre . . . was hat er, was haben wir davon . . . Gerechtigkeit ist wie Geburt. Ungerechtigkeit ist Tod. Man muß sich rühren . . . Ihr könnt nicht so zusehn . . . Das wäre ja sonst . . . soviel ich weiß, gibt's ein Wiederaufnahmeverfahren . . .!« Herr von Andergast dreht den Kopf wie eine hölzerne Puppe. »Laiengerede«, entgegnet er dumpf-widerwillig. »Wir haben uns zu hüten. Wir, die die Verantwortung tragen, dürfen nicht leichtsinnig umspringen mit Recht und Rechtsprechung. Wiederaufnahmeverfahren . . . Kindskopf, du ahnst nicht, was das bedeutet. Man mobilisiert nicht eine Armee, um einen gestürzten Baum aufzurichten, der zudem gar nicht mehr lebens- und wachstumsfähig wäre. Einen gewaltigen Apparat in Bewegung setzen, die Welt alarmieren, den alten, totgehetzten Streit von neuem entfachen . . . wo denkst du hin. Unter anderem: wäre der Meineid nicht verjährt, so müßte nach der Vorschrift des Gesetzes der Prozeß gegen diesen Waremme durch sämtliche Instanzen geführt und seine Verurteilung zu Recht bestehen. Bis dahin würden Jahre vergehen. Ich führe das nur an, damit du siehst, wie kompliziert diese Dinge sind. Die Verjährung brauchte natürlich kein Hindernis zu sein. Außerdem aber . . . es sind Rücksichten zu nehmen, schwerwiegende Rücksichten, Existenzen stehen auf dem Spiel, der Staatskasse wären enorme Kosten aufzubürden, das Ansehen des einschlägigen Gerichtshofes wäre geschädigt, die Institution als solche der zersetzenden Kritik preisgegeben, die ohnehin die Fundamente der Gesellschaft unterminiert . . . Laß ab von. der Vorstellung, daß Gerechtigkeit und Justiz ein und dasselbe sind oder zu sein haben. Sie können es nicht sein. Es liegt außerhalb menschlicher und irdischer Möglichkeit. Sie verhalten sich zueinander wie die Symbole des Glaubens zur religiösen Übung. Du kannst mit dem Symbol nicht leben. Doch in der strengen und gewissenhaften Übung das ewige Symbol über sich zu wissen, das . . . wie soll ich sagen, das absolviert. Eine solche Absolution ist natürlich notwendig. Daß man sich mit ihr beruhigt, ist gleichfalls notwendig.«
    Ein Vortrag. Lehrvortrag. Als die Stimme schweigt, wird es erschreckend still im Raum. Etzel blickt eine Weile mit zusammengepreßten Lippen vor sich nieder; auf einmal schreit er schrill: »Nein!« Die Augen funkeln böse. »Nein!« schreit er abermals, »damit kann ich und damit will ich nicht leben.« Sein ganzer Intellekt fängt Feuer. Die Respektschranke bricht zusammen. »Das erkenn ich nicht an«, stammelt er in einer Erbitterung,
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