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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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verschwinden. Es war ein kleiner, hagerer, alter Mann, kein »Herr«, auch kein Arbeiter, sondern dem Anschein nach ein Kleinbürger. Er mochte etwa siebzig Jahre alt sein, sah aber ziemlich rüstig aus und bewegte sich nicht ohne Flinkheit. Er trug einen schäbigen braunen Pelzrock, die Hände staken in Wollhandschuhen, über den Handgelenken hatte er außerdem sogenannte Pulswärmer mit rotem Saum, der linke Arm hing starr am Körper herab. Die beiden ersten Male hatte er eine kurze englische Pfeife geraucht, oder vielleicht war sie nur kalt zwischen den Zähnen gesteckt; jedenfalls gewahrte man hinter den strichdünnen, glattrasierten Lippen die schadhaften, beinahe schwarzen Zähne. Etzel hätte jede Linie des knochigen, verräucherten, boshaften Gesichts zeichnen können, die kleinen, spähenden, glitzernden Augen, die einen astigmatischen Blick hatten, wie wenn eines davon ein Glasauge wäre, die komisch abstehenden Ohren, die über graugrüne Backenbartbüschelchen hinausragten und an zwei häßliche, bis auf die Haut entfiederte Vögel in einem verdorrten Gestrüpp erinnerten. Das erste Mal hatte ihn Etzel auf der unteren Mainbrücke gesehen. Er befand sich in Gesellschaft von Robert Thielemann, dem Stotterer Schlehlein, dem langhalsigen Max Schuster, der eine Rolle in der Jugendbewegung spielte, dem dicken Klaus Mohl (dem Fresser, wie sie ihn wegen seines ewigen Heißhungers nannten) und Müller I und Müller II. Es hatte sich ein politischer Streit erhoben. Veranlassung war eine erbitterte Bemerkung Thielemanns über die perfiden Umtriebe Schusters gewesen. Die von ihm geführte Gruppe hatte gehässige Gerüchte über die republikanische Gruppe ausgestreut, und Thielemann warf ihnen ihr niederträchtiges Ränkespiel vor und daß sie sich, ohne jemals Farbe zu bekennen, wie ausgestopfte Puppen von Leuten hin und her schieben ließen, von denen sie nicht einmal wußten, ob sie nicht bezahlte Werber der Reaktion waren. »Ihr seid mir saubere Brüder«, rief er immer wieder aus, und der gemütlich breite Dialekt bildete einen komischen Gegensatz zu seinem Zorn. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, sein Gekräh erregte die Mißbilligung der Vorübergehenden. Er sah auch nicht besonders vertrauenerweckend aus mit dem brennroten Haarschopf, dem von kaffeebraunen Sommersprossen übersäten Gesicht und dem wehenden Flaus über den Schultern. Als er ihnen schließlich die Anklage zuschleuderte, sie und ihre Hintermänner terrorisierten bereits diejenigen unter den Lehrern, die man bisher noch zu den Aufrechten habe zählen dürfen, sogar ein Mann wie Camill Raff bekenne sich nicht mehr offen, sondern habe sich scheu in den Beobachterwinkel verkrochen, war er ganz grün vor Wut und schien nicht übel Lust zu haben, sich auf Schuster und die zwei Müller zu stürzen. Jener grinste halb verlegen, halb herausfordernd, der Stotterer Schlehlein, durch die Majorität sich geschützt wissend, pflanzte sich vor Thielemann auf und sagte unverschämt: »Das ist wa... wahr, dein Raff ge... ge... gehört eben auch zu den Bro... Bro... Brotsitzern. Hat A... A... Angst um die Stellung.« Thielemann maß ihn mit geringschätzigem Blick und warf hin: »Halts Maul, du Tropf!« Er sah sich nach Unterstützung um, aber es war niemand da für ihn, denn Etzel, dem derlei Auftritte zuwider waren, hatte sich von der hadernden Schar abgesondert und war vorausgegangen. Sie hatten vom Schweizerplatz her die Brücke erreicht; indem Thielemann sich hilfesuchend umschaute, nahmen seine Züge den Ausdruck des Schreckens an; er sah Etzel mitten auf dem Fahrdamm geistesabwesend auf ein ratterndes Lastauto zugehen, das ihn in den nächsten Sekunden niedergeworfen haben mußte. Er schrie aus vollem Halse: »Paß auf, Andergast, zum Teufel, paß auf!«, war mit einem Sprung bei dem Gefährdeten und riß ihn so rechtzeitig noch zurück, daß das Schutzblech des Wagens nur seine Hüfte streifte.
    Bei dem Namensruf, Andergast, wandte sich ein Mann, der am Geländer der Brücke stand und die Pfeife zwischen den Lippen auf den Strom hinunterschaute, als sehe und höre er nicht, was neben und hinter ihm vorging, mit jähem Ruck um, musterte die Gruppe der Knaben, faßte Etzel scharf ins Auge, und als Thielemann seinen Arm in den Etzels schob und halb ärgerlich, halb befehlend sagte: »Marsch, Andergast, lassen wir die Lumpenkerle«, folgte er den beiden in die Neue Mainzer Straße und hielt sich in einem Abstand von etwa zwanzig Schritten hinter
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