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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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luchsäugige, aber verborgene Aufsicht gestellt. Jedem Ding war Aufsicht übertragen. Kalender, Stundenplan, Uhr, Merkbuch, Schulzeugnis: alles ging von der Tabelle aus und strebte zur Festsetzung hin, amtlich starr. Dabei wurde keine Vorschrift ausdrücklich bestimmt oder die Einhaltung äußerlich erzwungen; sie wurde nur still vermittelt, und die eiskalte Selbstverständlichkeit, mit der es geschah, ließ an Widerspruch nicht denken. Die Verrichtungen und die Zeit waren durchätzt von der Vorschrift; Mittagessen: ein Uhr fünfzehn; Abendessen: sieben Uhr dreißig; Bad: Mittwoch und Samstag neun Uhr; Taschengeld: eine Mark per Woche; Umgang mit X. Y.: nicht ratsam, daher zu unterlassen. Im Fall verwunderten Aufblickens: ist etwas zu bemerken? Im Fall verlegenen Zögerns: darf ich bitten? Sehr freundlich, aber sehr kühl. Sehr gemessen. Sehr weltmännisch.
    Wenn ein starker Mensch einen Raum verläßt, wird die Atmosphäre lange nicht ruhig von ihm. Seine Energien strahlen auf die Sachen über. Wie erst gibt er sich in den Zimmern kund, in denen er haust und atmet! Das Bett, in dem er schläft, der Stuhl, auf dem er sitzt, der Spiegel, in den er blickt, der Schreibtisch, an dem er arbeitet, die Zigarrenbehälter und Aschenschalen, die er benutzt, alles hat sein Gepräge, etwas von seiner Miene, seiner Gebärde, ja von seiner Körpertemperatur, als ob eine tägliche minimale Abgabe seines Blutes an sie stattfände.
    Seit er denken und sich erinnern konnte, hörte Etzel eine bestimmte Tür in ein und derselben Art sich öffnen und schließen; beim Öffnen weit und langsam, als ob die mächtige Figur erst den Raum messen und mit dem Auge von ihm Besitz ergreifen müsse; beim Schließen unwiderruflich, wie man einen Brief mit entscheidendem Inhalt versiegelt. Daraus schmiedete die Phantasie eine Kette gleichbleibender Vorstellungen: Entfernung aus einer Welt, in der sich schauriges Leben ereignete; feierliche Unterzeichnung schicksalsvoller Schriftstücke; einschüchternde Einsamkeit. Als Kind hatte er sich bisweilen zu der Tür hingeschlichen und sie mit großen Augen lange angeschaut, wie um unsichtbare Runen zu entziffern, mit denen sie beschrieben war. Vernahm er ein Räuspern des Vaters, das Scharren seiner Füße, sein gewichtiges Auf- und Abschreiten, das den Rhythmus eines Mannes hatte, den ein Heer unguter Gedanken belagert, dann zog er sich leise zurück und versuchte in der Stille seiner Kammer etwas von diesen Gedanken, den vollzogenen Entschlüssen, der ganzen unbekannten düsteren und gefährlichen Vaterwelt zu erraten.
    Ähnlich war es mit den Glockensignalen, die so befehlend kurz nur aus seinen Räumen kamen, Punkt halb acht Uhr morgens aus dem Schlafzimmer, Punkt halb drei, nach der Mittagssiesta, aus dem Arbeitszimmer, ausgenommen an Tagen, wo Gerichtsverhandlungen bis in den Nachmittag dauerten. Bei jedem Signal zuckte Etzel zusammen, zweimal täglich befiel ihn die nämliche, mit Herzklopfen verbundene Beklemmung. Es geschah noch jetzt nicht selten – dem Kind war es ein häufiger Alpdruck gewesen –, daß er nachts aus dem Schlafe fuhr, weil die Glocke in den Traum geschrillt hatte. Er lauschte und sah dicht vor sich – beleuchtete Plastik in der Dunkelheit – die Hand des Vaters mit gebietend ausgestrecktem Zeigefinger. Er kannte diese Hand besser als die eigene; sie gehörte sogar in eine Reihe wiederkehrender Traumerscheinungen; sie war vornehm schmal, mit spitz zulaufenden Fingern, ins Gelbliche spielenden Nägeln und einer seidigen Schicht brauner Haare auf dem Rücken. Manchmal bewegte sie sich im Traum auf einem blauen Aktendeckel wie ein seltsames Reptil. Ihre stumme Beredsamkeit oder ausdrucksvolle Ruhe ließ bisweilen an die Hand eines Schauspielers denken, eines besonders erfahrenen und überlegenen allerdings, der nur strenge und gelassene Charaktere verkörpert und sie wohlerwogen »spielt«, nicht geradezu lebt, sondern eben spielt, um begreiflich zu machen, daß er die Distanz wahrt. Mit dem Begriff Distanz war Etzel schon ziemlich früh vertraut, obschon seine Natur, im Gegensatz zu der des Vaters, auf Nähe angewiesen war. Seine Kurzsichtigkeit betonte es auch äußerlich.
    3

    Das lautlose Überwachungssystem erfüllte seinen Zweck kaum noch dem Scheine nach, da Etzel bereits erfolgreiche Anstalten getroffen hatte, sich aus den unbequemen Klammern zu befreien. Dies wurde ihm freilich schwerer als andern Jungen in ähnlicher Lage, da ihn seine Loyalität an Abmachungen band und
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