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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius
Autoren: Jakob Wassermann
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seine geistige Selbständigkeit ihn verhinderte, sich einem Altersgenossen anzuvertrauen. Es war ihm auch nicht möglich, sich einer der Gruppen oder Parteien anzuschließen, die sich unter den Kameraden gebildet hatten und fortwährend neu bildeten. Er hatte keine Freude an ihren Debatten und nahm an ihren Versammlungen nur selten und widerwillig teil. Kaum war er zu bewegen, sich zu einer Frage beistimmend oder ablehnend zu äußern, und ihre kategorischen Erledigungen erweckten nichts als Zweifel in ihm. In seiner Zurückhaltung lag mehr Mut als in dem Geschrei der Draufgänger, das wurde eingesehen. Sonderbar genug, man achtete ihn deshalb. Trotzdem war der einzige Freund, den er hatte (für sich selbst schränkte er den Titel Freund vorsichtig ein, nach außen ließ er ihn aus Courtoisie gelten), ein Radikalist und unruhiger Kopf; aber schließlich war es ja nicht die Gesinnung Robert Thielemanns, deretwegen er ihn zum Gefährten erwählt, sondern eine gewisse Breite und Offenheit der Natur, die ihm gefiel; und so entstand ein Verhältnis, das auf Temperamentsausgleich gegründet war, wobei sich groß und klein, plump und beweglich, rauh und zart im Gegensatz ergänzten. Thielemann liebte es, den Beschützer Etzels zu spielen, um dessen geistige Überlegenheit oder Überlegenheit der persönlichen Form er übrigens wußte. Für seine manchmal ans Bizarre streifende Ursprünglichkeit im Denken und Urteilen fehlte ihm das Verständnis, aber die körperliche Unentwickeltheit Etzels und seine scheue Feinheit (unter der sich allerdings eine für ihn nicht wahrnehmbare Kraft verbarg) trieben ihn dazu, den Jüngeren und Schwächeren zu bemuttern. Und nicht nur er allein, alle Kameraden gingen glimpflich mit ihm um.
    Etzel idealisierte, wie gesagt, seine Freundschaft mit Thielemann nicht. Er erkannte klar das Vorläufige wie das Ungenügende daran und benahm sich wie jemand, der, vielleicht aus Bescheidenheit, vielleicht um nicht aufzufallen, vielleicht weil er nichts Besseres gefunden hat, mit einer ziemlich engen Behausung vorliebnimmt, obwohl ihm seine Mittel gestatten würden, eine bessere zu beziehen. Das Gefühl des Provisorischen herrschte überhaupt bei all seinen Beziehungen in ihm vor, ohne daß er wußte, woher es kam, und ohne daß er dagegen anzukämpfen vermochte. Mühsam genug, es nach außen hin zu verheimlichen, wenn er es in manchen Momenten sich selber nicht mehr verheimlichen konnte. Das war es eben, er hatte die Gabe, sich selber was zu verheimlichen: ein schwieriger Prozeß, der Schlauheit und einige Phantasie erfordert. (Er legte aber keinen Wert auf Phantasie, er wollte nichts wissen von der Phantasie, und das war eine weitere Merkwürdigkeit seines Charakters.)
    Gern hätte er mit Robert Thielemann über den Mann mit der Kapitänsmütze gesprochen, unterließ es jedoch, da er fürchtete, auch sich selbst die Beunruhigung, die von ihm ausging, zu deutlich zu enthüllen. Die dreimal wiederholte Erscheinung des Alten beschäftigte und verdunkelte unablässig seine Gedanken. An dem Tage, wo er Zeuge wurde, daß der mysteriöse Mensch auch seinem Vater auf dessen Wegen folgte, auch ihm gegenüberzutreten wagte und daß dies, bei allem Hochmut, bei aller kalten Unnahbarkeit, kein gleichgültiger Eindruck für den Vater zu sein schien, keine verächtliche Episode, dessen glaubte Etzel sicher zu sein, an dem Tage verwandelte sich die bloße Beunruhigung in gereiztes, fortwährend anwachsendes Mißtrauen, das gegen alle und alles in seiner Umgebung gerichtet war, als trügen die Mauern nicht mehr verläßlich das Dach, als seien penetrante Giftstoffe in den Schränken aufbewahrt, als brenne im Keller eine Zündschnur, die demnächst eine Kiste Dynamit zur Explosion bringen mußte. Dieser peinlich abwartende Zustand dauerte mit größeren oder geringeren Pausen an, bis ihm in einem der Aktenfaszikel des Vaters das Schriftstück in die Hände geriet, das dann sein ganzes ferneres Schicksal entscheidend beeinflußte.
    4

    Gehaben und Aussehen des Mannes mit der Kapitänsmütze, obwohl zunächst unauffällig und alltäglich, hatten dennoch etwas Gespenstisches, schon durch die Beharrlichkeit und bohrende Aufmerksamkeit, mit der er den Knaben von der ersten Sekunde der Begegnung an betrachtete, ihm eine Zeitlang auf Schritt und Tritt folgte, ihn dann zu überholen suchte, um ihn, wenn dies gelungen war, aufs neue anzustarren und schließlich, wie er unerwartet aufgetaucht war, unerwartet wieder zu
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