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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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frisch.
    Auch Tosca spürt die kühle Sommerluft durch das dünne Kleid. Gleichzeitig steigt ihr das Fliederparfüm in die Nase, mit dem sie ihren übel riechenden Schweiß überdecken wollte. Ihre Brust juckt. Am Morgen hat sie vergessen, die entzündeten Stellen einzureiben. Bald wäre alles vorbei. Dann könnte sie das enge Kleid ausziehen und sich die verlaufene Schminke aus dem Gesicht waschen.
    Sie öffnet die Augen wieder, sieht auf ihre Handschuhe. Niemand ahnt, was für kräftige Hände sich darunter verbergen. Die Hände einer Mörderin. Sie musste Scarpia töten. Stirb! Stirb! Stirb! – Sie will sich nicht umdrehen, um zu überprüfen, ob er endlich tot ist.
    Für einen Moment ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie es tatsächlich tun musste. Ihre Gedanken beginnen, mit ihr Karussellzu fahren. Ganz ohne Schwung, direkt aus dem Handgelenk heraus stach sie zu, genauso wie es die Partitur vorsieht. Aber sie hat es wirklich getan. Allein für diese Darbietung hätte ihr Szenenapplaus zugestanden und mindestens drei Solo-Vorhänge. Sie lächelt, kann die Geschehnisse dieser Nacht nicht fassen.
    Ihr letzter Auftritt steht noch aus. Welche Kulisse dafür! Münchens ausgebombte Bühne ist plötzlich weit weg, sie steht auf der Engelsburg in Rom, sie spürt es genau, unter ihr gurgelt der Tiber. So will es die Oper. Dorthin wird sie springen müssen, in das undurchdringliche Schwarz. Das atemlos gespannte Publikum auf den ausverkauften Rängen und im Parkett, der schwerhörige Dirigent, das berühmte Orchester, alle warten gespannt. Sie erwarten etwas von ihr. Sie erwarten einen stilvollen Abgang. Hätte man sie doch früher hier auftreten lassen und nicht erst bei dieser armseligen Aufführung mit einem Musiker, der sie erbarmungslos durch die Partie peitscht… nicht erst nach dem Untergang, ihrem eigenen und dem Deutschlands.
    Sie macht einen Schritt nach vorn, an den Rand des fast leeren Zuschauerraums, nein, der Engelsburg! Sie ist Tosca, die gefeierte Sängerin, der große Star! Das ist ihr Abend! Den rauschenden Beifall wird ihr niemand mehr nehmen. Unschlüssig zieht sie das andere Bein nach. Sie kann das Gleichgewicht kaum halten. Vor ihr nichts als Schwärze. Hinter ihr lauert der Tod. Die Musik wird sie tragen, sie kann gar nicht fallen! Spring, befiehlt die Musik. Spring endlich, Tosca!
    Sie neigt sich nach vorne, ganz langsam wie bei einer Verbeugung, die Arme weit ausgestreckt, ihr linkes Knie gibt leicht nach. Bei jedem Schritt gibt es einen Punkt der Unumkehrbarkeit. Nun gibt es kein Zurück mehr. Ihre Zehen knicken in den engen Schuhen um, die Blase an ihrem Zehschmerzt noch einmal. Dann fällt sie. Die Klarinette begleitet sie mit einem schrillen, sich überschlagenden Ton.
    Der Musiker blickt auf und stellt sein Instrument neben sich auf den Boden. Die sternenklare Nacht wäre ideal für einen Luftangriff. Aber die Zeiten sind vorbei. Wo ist die dürre Sängerin? Ist sie zur anderen Portalseite abgegangen? Nein, dort gibt es kein Entkommen. Allmählich dringt in sein Bewusstsein, dass Tosca wirklich gesprungen ist. Ihn schaudert. Er sieht sich nach dem Zuschauer um. Regungslos hängt er in seinem Klappstuhl. Hat ihn der theatralische Abtritt so ergriffen? Er applaudiert nicht, ruft nicht »Brava!«, ist dazu auch gar nicht mehr in der Lage. Denn Tosca hat das Scheusal Scarpia zum Schweigen gebracht. Und mit ihm ihren letzten und einzigen Bewunderer.

3
    Martin zog sich die Decke über den Kopf. Über ihm mussten hundert Schreihälse seinem morgendlichen Auftritt zujubeln. Er drehte sich auf die andere Seite. Die Decke kratzte. Etwas krabbelte ihm in die Nase. Unwirsch fingerte er einen Käfer heraus und schlug die Augen auf: über ihm die dicht belaubte Krone einer Buche, darum herum blauer Himmel und ein riesiger, auf ihn zurollender Sonnenball. Er schlug die Decke zurück. Die Vögel verstummten. Die Decke? Beim Einschlafen hatte er keine gehabt. Maria, breite deinen Mantel aus, so hatten die Abendgebete seiner Mutter begonnen. Wie eine Heilige hatte sie sich ihrem Sohn gegenüber nicht verhalten. Gab es in Bayern welche? Es schien so. Heilige und Verbrecher. Wenn es darauf ankam mehr Verbrecher als Heilige. Er richtete sich auf. Niemand war zu sehen.
    Das geheimnisvolle, blaue Nichts jenseits des Heuschobers, den er in der Nacht gerade noch hatte erkennen können, hatte sich in einen glitzernden See mit träge darin dümpelnden Booten verwandelt. Selbst die Berge hatten im Tageslicht alles
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