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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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ließ sich nichts mehr befehlen. Nur Katharina hatte dazu das Recht. Ihm fiel der Polizist ein, der ihnen im Sommer das Glas voller Zigarettenstummel weggenommen hatte. Wahrscheinlich war er es, der vor der Tür stand. Wenn er Katharina anfasste, würde Ewald ihn töten.
    »Wir wissen, dass ihr da drinnen seid!«, rief der Unbekannte im Treppenhaus.
    Er konnte nicht wissen, dass Ewald sich mit Krieg auskannte. Und mit einer Handgranate. Dass ihm Ferdinand gezeigt hatte, wie man damit umging. Er beschloss, den Garten mit den Polizisten und allem in die Luft zu sprengen, um dann nach Russland zu verschwinden. Feierlich schritt er zur Balkontür und öffnete sie. Draußen war es bitterlich kalt.
    »Katharina –«, begann er flehentlich und wusste nicht weiter.
    Der Mann warf sich draußen gegen die Schlafzimmertür. Ewald trat einen Schritt näher an die Balkonbrüstung und spähte hinunter. Was er sah, war nicht zu glauben. Er schluckte. Auf dem mit einer Schneeschicht überzogenen Rasen standen zwischen den Uniformierten Ferdinand und Sophie! Sie sahen genauso aus wie an jenem Sommermorgen, als sie die Geschwister im Wohnzimmer überrascht hatten. Wie waschechte Räuber! Er schloss die Augen und sah wieder hin. Sie waren es wirklich . Er winkte, doch sie bemerkten ihn nicht. Ein Wunder war geschehen, an das zu glauben er seither nie aufgehört hat: Ferdinand war mit seinen Pantherngekommen, um Katharina zu retten! Auch Mama und Papa kämen eines Tages wieder, bestimmt, man durfte nur den Glauben nie verlieren!
    Nun musste er genau überlegen, was als Nächstes zu tun war: Papa durfte seine große Tochter auf keinen Fall nackt im Bett finden, sonst würde er böse und schrie mit hochrotem Kopf herum. Mama bräuchte einen Stuhl, um sich hinzusetzen, und eine Decke für die kalten Füße. Vorher musste Katharina sich waschen und die dreckige Unterhose verstecken. Und er selbst musste sich die Haare kämmen und das Zimmer aufräumen und die Schnürsenkel binden, sonst ginge die Schimpferei gleich weiter … Er stolperte zum Bett und baute sich vor seiner Schwester auf:
    »Werd lebendig! Scheiß Kruzifix! Mama und Papa kommen! Wach endlich auf! Ferdinand ist da!«
    Nichts geschah.
    »Ferdinand liest dir etwas vor!«
    Die Handgranate verstaute er in der Hutschachtel mit den Geschenken und Katharinas Buch, schob sie unter das Bett zurück und rüttelte an dem ausgemergelten Körper. Grimmig küsste er ihre kalten Wangen, links und rechts.
    Wieder warf sich jemand gegen die Tür. Ferdinands Männer, die sie retten wollten! Er würde ihnen gleich aufmachen. Gleich. Katharinas Arm fiel zur Seite. Er ertrug ihr eingefallenes Gesicht nicht mehr. Den starren Blick. Mit einem Ruck zog ihr der kleine Junge, der ich vor einundsechzig Jahren gewesen war, die Bettdecke über den Kopf, lief auf den Balkon und schrie, so laut er konnte:
    »Prinzessin! Gib sie wieder her!«
     
    E. K.
    MÜNCHEN, DEN 29. APRIL 2006

Anmerkung des Autors
    Fast alles in diesem Roman hat sich so oder ganz ähnlich zugetragen im Sommer des Jahres 1945. Auch die Penzberger Mordnacht und der Todesmarsch aus Dachau. Freilich mit anderen Beteiligten, denn sämtliche Figuren sind erfunden.
    Mein Dank gilt jenen, die mit Zuspruch, Kritik und Auskünften daran mitgewirkt haben. Gewidmet sei er den Freunden, die mir in schwerer Zeit zur Seite standen.
    M. D.

Eine Auswahl zum Weiterlesen
    Richard Bauer: Ruinen-Jahre. Bilder aus dem zerstörten München 1945   –   1949. München: Hugendubel Verlag 1988.
    Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart: Klett-Cotta 2004.
    Heinrich Böll (Hg.): Niemands Land. Kindheitserinnerungen an die Jahre 1945 bis 1949. Bornheim-Merten: Lamuv Verlag 1985. Isaac Deutscher: Reportagen aus Nachkriegsdeutschland. Hamburg: Junius Verlag 1980.
    Jürgen Engert (Hg.): Die wirren Jahre. Deutschland 1945   –   1948. Berlin: Argon Verlag 1996.
    Hermann Glaser: 1945. Ein Lesebuch. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995.
    Frank Grube, Gerhard Richter: Die Schwarzmarktzeit. Deutschland zwischen 1945 und 1948. Hamburg: Hoffmann und Campe 1979.
    Joachim Käppner, Robert Probst (Hg.): Befreit. Besetzt. Geteilt. Deutschland 1945   –   1949. München: Süddeutsche Zeitung Edition 2006.
    Erich Kästner: Notabene 45. Ein Tagebuch. Zürich: Atrium Verlag 1961.
    Robert Jay Lifton: Ärzte im Dritten Reich. Stuttgart: Klett-Cotta 1988.
    Herbert List: Memento 1945. Münchner
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