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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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und ›Bald haben wir es geschafft‹. Ja, bald hatten sie es geschafft. Die drei. Doktor Klammberg, Heidemarie und das Kind. Mein Kind. Aber vor allem er hatte es geschafft. Sie war ihm hörig und er brauchte ein williges Versuchskaninchen. Einen Mann wollte er aus ihr machen, dieser Frankenstein. Deswegen versuchte sie ihn umzubringen. Aber das Böse überlebt immer. Wenigstens musste meine Tochter das nicht miterleben.« Er kickte mit der Fußspitze gegen eine der Krücken, die polternd zu Boden fiel. »Na, Andras, bewunderst du ihn immer noch dafür, den Professor?«
    Anne sah Andras irritiert an. Was hatte er mit dem Kind und diesem Professor zu tun? Sein erstarrter Blick war aufdas Radio gerichtet, die Hände lagen verkrampft im Schoß übereinander.
    »Dieses Ungeheuer hat beide auf dem Gewissen, mein Mädchen und meine Tochter. Und Andras beglückwünscht ihn noch dafür, dass es ihr nicht gelungen ist, sich an ihm zu rächen«, fuhr Martin fort.
    »Das ist nicht gerecht«, flüsterte Andras, »ich konnte nicht wissen, wen du gesucht hast. Ich dachte, er wäre dein Vater.«
    »Wie hieß sie?«, fragte Anne.
    »Katharina. Der Name stammt von mir. Wenigstens der –«
    Radio München unterbrach Martin mit den Fünf-Uhr-Nachrichten.

49
    Es war nicht gerecht. Tausendmal hatte Katharina ihm damit gedroht, dass er bald alleine sein würde. Zur Strafe, wenn Ewald die Balkontür zu laut zumachte. Oder wenn er sich nicht die Schuhe an der Tür auszog. Oder wenn er log. Dabei hatte sie seine Lügen meistens gar nicht mitbekommen. Das Wasser, das ihr so wichtig gewesen war, hatte er gar nicht aus dem Prinzessinnentümpel, sondern aus dem Nymphenburger Kanal geholt, weil es geregnet und er keine Lust gehabt hatte, mit durchlöcherten Schuhen bis in die Stadt zu laufen. Und Ferdinand hatte das Buch auch nicht Sophie geschenkt, sondern es nur auf dem Flügel im Wohnzimmer liegen lassen.
    Dabei hatte seine Schwester selbst gelogen, hin und wieder. Und in der Nacht Schokolade aus der Küche geklaut, bis es keine mehr gab. Und die Briefe von Mama hatte sie auch gelesen und Papa alles gepetzt.
    Ewald sperrte die Schlafzimmertür ab und öffnete den Deckel des Grammophons, wie er es hundertmal bei seiner Schwester beobachtet hatte. Unter dem Bett lagen neben der Hutschachtel mit Ferdinands Geschenken auch die verstaubte Platte und das Buch. Er wischte sie mit einem Hemdzipfel ab und legte sie auf.
    »Hör endlich!«, rief er zu Katharina und setzte den Tonarm auf. Er setzte sich neben das Bett in den Sessel. Wenn die Musik spielen würde wie früher, müsste sie wieder lebendig werden. Er dachte an die Frösche in dem Tümpel und den leeren Sockel auf dem Marienplatz. Zumindest ein Bein der Prinzessin hatte er selbst in der Hand gehalten. Man musste fest an ein Wunder glauben. Das Grammophon kratzte. Ganz entfernt konnte man den Tenor vernehmen. Verärgert gab Ewald dem Tonarm einen Schubs mit dem Fuß. Die Nadel kratzte über die Platte und blieb in der Mitte hängen.
    Ein Blick auf die Küchenuhr zeigte, dass es sieben Uhr war. Sie hätte ihm nie geglaubt, dass er die Uhr lesen konnte, ganz allein. Um sieben Uhr einundzwanzig würde sie wieder lebendig werden, beschloss er. Er musste nur fest genug daran glauben. Wenn nicht, würde er die ganze Welt in die Luft jagen.
    Ewald legte sich auf den Rücken neben seine Schwester und sah an sich hinunter. Sein Bauch wölbte sich, als hätte er einen Fußball verschluckt. Er hatte zu viel Hunger gegessen; warum man davon dick wurde, verstand er nicht. Er nahm Katharina die Handgranate aus der Hand, legte sie sich in den Schoß und wartete.

50
    Martin wartete das Ende der Suchmeldungen ab, bevor er fortfuhr. »Die Wahrheit fällt schwer, wenn man sich an das Lügen gewöhnt hat. Eigentlich war ich froh, dass ich das Kind und seine Mutter los war. Mit neunzehn. Und meine Eltern waren auch froh, ihren Sohn los zu sein, der nur Schimpf und Schande ins hochherrschaftliche Haus gebracht hat. Ich hätte Heidemarie nicht geheiratet, das wussten alle. Obwohl ich sie gern hatte. Das Kind wollte ich, nicht sie.«
    »Das Lügen scheint dir in Fleisch und Blut übergegangen zu sein«, sagte Anne mit einer Bitterkeit, in die sich auch Erleichterung mischte.
    Martin beachtete sie nicht einmal. »Vor der Abfahrt besuchte ich Heidemarie im Krankenhaus. Sie lachte, als ich ihr sagte, dass sie den Arzt heiraten solle. Wie bestellt betritt im selben Moment Doktor Klammberg den Raum. ›Und in
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