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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer
Autoren: Maximilian Dorner
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kurz nach sechs. Draußen war es fast dunkel.
    »Hör mal.« Er drückte die Uhr an Katharinas Ohr. Dabeistreifte er ihre Wange. Sie war eiskalt. »Hör auf die Uhr!«, fuhr er sie an und gab seiner Schwester eine Ohrfeige. Nichts. Und noch eine auf die andere Backe. Katharina wehrte sich nicht. Auch nicht, als ihr Ewald die entsicherte Handgranate in die Hand drückte.

48
    » Come in! Ich habe nichts zu verbergen«, rief Martin.
    Breitbeinig stand er in der offenen Küchentür und hob die Hände an den Türsturz. Anne machte einen Schritt auf ihn zu. Seine langen Haare wirkten stumpf, die Backen eingefallen. Trotz seiner strahlend weißen Zähne machte er einen verwahrlosten Eindruck. Andras starrte betreten zu Boden.
    »Kommt endlich herein, sonst hole ich mir eine Erkältung. Du siehst Männer doch gerne ausgezogen, Anne. Also zier dich nicht!« Martin ließ die Arme sinken. In der Küche schaltete er das Radio ein. Blasmusik erklang. »Obwohl … wartet, ich muss mich erst verkleiden.« Er warf die Tür zum Flur zu.
    Andras blickte Anne verunsichert an. Sie zuckte mit den Schultern. Eine knappe Minute später öffnete Martin die Tür wieder. Er trug die Uniformjacke des schwarzen Offiziers, die er auf der Zugfahrt nach München eingetauscht hatte und die gestreifte Hose eines Häftlingsanzuges.
    »Seht ihr, man kann Befreier und Opfer gleichzeitig sein!«
    »Damit spaßt man nicht!«, protestierte Andras.
    Anne zupfte Martin am Ärmel. »Was ist das für ein alberner Auftritt?«, fragte sie, entschlossen, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Er schüttelte sie ab.
    »Kommt rein, ich muss mit euch reden!«
    Andras richtete sich auf und humpelte voraus in die Küche.Sie folgte ihm. Martin stellte sich ans Fenster und öffnete es. Nasskalte Luft strömte herein.
    »Frische Luft tut uns gut.« Er drehte das Radio leiser. »Wie ich München hasse.«
    Anne hob beschwichtigend die Hände. Martin schloss das Fenster und stellte zwei Stühle davor. Sie setzten sich wie zu einer Theateraufführung. Anne verschränkte die Arme, Andras umklammerte seine Krücken. Die Katze lag zusammengerollt am Boden auf dem achtlos zusammengeknüllten Leinenhemd und schlief. Martin trommelte mit den Fingern auf der Holzplatte des Küchentisches.
    »Jeder will seine Geschichte schnellstmöglich loswerden. Die großen Geschichten von der Flucht und Vertreibung, die ganz großen von der Wehrmacht und den Schützengräben und Stalingrad. Für alle anderen gibt es wenigstens eine kleine Luftschutzkellergeschichte, und wenn man das nicht erlebt hat, wie die Leute auf dem Land, klagt man eben über die verlorenen Jahre. Bis zum Erbrechen habe ich mir das ein halbes Jahr angehört.«
    »Willst du abstreiten, dass unser Land in Schutt und Asche gebombt wurde?«, fragte Anne aufbrausend.
    »Ich habe nur zugesehen. So einer gilt bei euch nicht.«
    Anne verdrehte die Augen: was für eine aberwitzige Verdrehung der Tatsachen! Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Mit dir spreche ich über die Vergangenheit nicht mehr, darauf kannst du Gift nehmen.«
    »Musst du auch nicht, denn nun erzähle ich dir meine. Ihr beiden werdet euch nun zehn Minuten mit mir beschäftigen.«
    »Ich habe dich oft genug danach gefragt, aber du antwortest nur, wenn es dir in den Kram passt«, unterbrach ihn Anne erneut. Martin leerte die Schnapsflasche und knallte sie auf den Tisch.
    »Es begann vor zwölf Jahren. Ich stand am Bett meines Mädchens, unmittelbar bevor sie ein Kind bekommen hat. Meine Tochter. Und ich stand daneben, kurze Zeit nur nachdem sie sich in einen anderen verliebt hatte. Zu allem Überfluss geschah beides gleichzeitig in meiner Abwesenheit. Während der Geburt verliebte sie sich nämlich in diesen Gnom.«
    Zornig griff er nach einem Topf auf dem Herd. Andras und Anne hoben schützend die Arme. Er donnerte ihn auf den Tisch und stellte die Flasche hinein. Dann schob er ihn mit ausgestrecktem Arm über die Holzplatte, bis er polternd auf die Küchenbank fiel.
    »Dämmert dir langsam, wen ich im Sommer unter dem Schutt gesucht habe, Andras? Meine Tochter. Und die große Sängerin, die vor zwölf Jahren mit mir unter der Dusche geträllert hat, das war mein Mädchen! Meins!«
    Anne öffnete den Mund. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass er eine andere geliebt hatte, doch Martin ließ sie nicht zu Wort kommen.
    »Am Anfang hielt sie während der Geburt noch zu mir, am Ende hing sie an seinen Lippen. Und er salbaderte den ganzen Unfug ›Es wird schon‹
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